Schnee

Der Dichter Ka kehrt aus seinem selbst gewählten Exil in Deutschland nach Istanbul zurück. Kaum hat er sich mit seinem Heimatland wieder etwas bekannt gemacht, da erhält er den Auftrag, über eine merkwürdige Reihe von Selbstmorden junger Frauen in seiner abgelegenen Heimatstadt Kars am Schwarzen Meer zu recherchieren. Schon auf der Busfahrt von Erzurum durch die Berge nach Kars, beginnt Schnee zu fallen und der verträumte Dichter reist seiner eigenen, man weiß nicht recht ob verdrängten oder in sich begrabenen Jugend entgegen. In Kars angekommen bezieht er Quartier im Hotel des Vaters seiner Jugendliebe Ipek, mit der er sich sehnsüchtig ein Wiedersehen und – wer weiß – vielleicht sogar ein wieder aufblühen der alten Liebe wünscht.

Der Schneesturm und Pamuks Miniatur der türkischen Gesellschaft

Dann bricht ein Schneesturm los, der die kleine Stadt vom Rest der Welt abschneidet. Isoliert vom Rest der Welt kommt es nach einem inszenierten Aufruhr im Volkstheater, wo auch Ka gelesen hat, zu einem lokalen Militärputsch. Mit diesem Kunstgriff schafft Orhan Pamuk in seinem grandiosen Roman Schnee die Situation, in der er – ohne Eingriffe von außen – ein Bild der türkischen Gesellschaft zeichnen kann. Da sind Kopftuchbefürwortende, da sind richtig gehende Islamisten und Islamistinnen, da sind jene, die dem westlich ausgerichteten Kemalismus angehören, Leute, die nur ans Geschäft denken oder den Opportunismus befürworten, kurdische Nationalisten und Nationalistinnen, Gemäßigte und mitten drin, zwischen allen Stühlen stehend der Dichter Ka, der nach zwölf Jahren in Deutschland überhaupt zum ersten Mal wieder in seinem Heimatland, seiner Heimatstadt ist. Gerade dieser Außenseiter beschäftigt sich in diesem aufgeladenen Umfeld mit Recherchen zu den Selbstmorden junger Frauen. Nebenbei schreibt er das eine oder andere Gedicht und versucht mit seiner Jugendliebe Ipek anzubändeln. Zu gebildet, um irgendwie „für“ die Zugehörigen des Islamismus zu sein und zu sehr desillusioniert vom „Westen“, den er im Gegensatz zu der Bevölkerung von Kars ja aus erster Hand kennt, sowie ganz hingerissen von dem Gefühl, wieder „Heimat“ gefunden zu haben, wird bald klar, dass es mit ihm kaum ein gutes Ende nehmen wird. Neutralität, offen zugegebene Zweifel oder gar – Gott bewahre – eine differenzierte Betrachtung (wie sie der Roman selber sehr geschickt herstellt) sind nicht gerade gefragt. Ka selbst hat dabei eine ganze Reihe von geradezu mystischen Erlebnissen. Das beginnt schon im Bus, auf der Reise hinter die Berge, nach Kars, wo sich sein Blick im Schneetreiben mehr und mehr verliert. Nach vier Tagen – dem zeitlichen Handlungsspielraum des Romans – schmilzt der Schnee und das Militär rückt in die Stadt ein. Ka kehrt wenig später nach Deutschland zurück, wo er zwei Jahre später ermordet wird.

Der Erzähler und Interpretationsansätze zu Orhan Pamuks Schnee

Der Erzähler des Romans, ein gewisser „Romancier“ Orhan rekonstruiert aus Aufzeichnungen Ka´s den Aufenthalt in Kars und reist schließlich selbst dorthin. Vor Ort spricht er am Ende des Romans mit einigen der beteiligten Personen. Dabei versetzt er sich so sehr in seinen verstorbenen Freund hinein, dass er sich sogar in Ipek verliebt.

Neben der Ost-West Problematik, die fast immer ein Thema in Pamuks Romanen ist, findet sich in „Schnee“ neben dem Mikrokosmos Kars, der metaphorisch für die türkische Gesellschaft stehen kann, auch eine intensive Beschäftigung mit der Emanzipation der Frau, bzw. deren häufig schwierigen Rolle in der türkischen Gesellschaft. Literarische Anspielungen bestehen vor allem zu Kafka und dessen beiden Figuren „K“ in der Novelle „Der Prozess“ sowie als Landvermesser “K” im Roman „Das Schloss“. In Kars, eigentlich ja die Heimatstadt des Dichters Ka, verliert sich dieser in einer regelrechten Odyssee, genauso wie der Landvermesser K in Kafkas Roman.

Abschließende Gedanken zu Orhan Pamuks “Schnee”

Was mich beim Lesen von „Schnee“ gleich begeistert hat, ist die tiefe Liebe, mal gemischt mit Stolz, mal mit Traurigkeit, mal mit Freude, die Pamuk für seine Heimat empfindet. Mit diesem Roman spricht er nicht nur bis heute unter der Oberfläche (und inzwischen auch gar nicht so selten oben, spiegelnd auf der Oberfläche) gärende Probleme und Missstände an, was ihm in der Türkei natürlich heftig angekreidet wird, er setzt dem sprichwörtlich am Ende der Welt liegenden Kars im Grenzgebiet zwischen Armenien, Russland und der Türkei auch so etwas wie ein literarisches Denkmal. Die Anfeindungen kommen dabei im Übrigen nicht nur von islamisch-islamistischer Seite, wie man das vielleicht denken könnte, sondern noch viel mehr von national-türkischer. In Schnee ist nichts schwarz-weiß, wenn man aber so etwas wie das Böse ausmachen kann, dann sind es Abgesandte des Staates und Predigende mit einer eigenen Agenda – vor allem bleiben Menschen hier aber immer Menschen, mit all ihren Schwächen und Stärken und irrationalen Entscheidungen, ja, manchmal sogar verzweifelten Wahnsinnstaten. Wessen Interesse an der Türkei über billigen All-inclusive Urlaub hinausgeht, findet in Schnee – wie in vielen anderen Romanen Orhan Pamuks, interessante Einsichten in eine fremde aber dann irgendwie doch vertraute Welt. Auch sprachlich sind Pamuks Romane ein Fest und verbinden die poetische, blumige Sprache der orientalischen Literatur mit der eher europäisch geprägten Form des Romans. Anders als dies heute häufig im deutschsprachigen, französischen aber auch angelsächsischen Raum der Fall ist, wird Sprache hier beinahe märchenhaft verwendet.

Schrifsteller.de Redaktion

Collagenbilder oben von: amazon / orhanpamuk.net

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