Alard von Kittlitz – Wer wir sind und was wir wollen

 

Der Berliner Journalist und Autor Alard von Kittlitz ist in Indien, Äthiopien und Deutschland aufgewachsen. Er hat Philosophie und Geschichte studiert und einige Jahre für die FAZ sowie für das NEON-Magazin gearbeitet. Seit 2015 ist er bei der ZEIT. Anfang August ist sein Romandebüt „Sonder“ im Piper Verlag erschienen. Wir haben mit Alard über das große Privileg und über die Bürde, in diese Zeit geboren worden zu sein, gesprochen, über die Sehnsucht nach einem Gegenüber sowie über die Freude darüber, wenn Romanfiguren plötzlich anfangen, ein Eigenleben zu entwickeln.

 

Warum schreibst du? 

Ich stelle mir diese Frage nicht mehr. Sie erzeugt einen zu großen Druck, sie lähmt. Zumindest wird sie für mich zum Problem, wenn ich mich nach der Legitimität meines eigenen Schreibens frage. Es gibt genug Bücher in der Welt, es gibt auch genug Bücher in der Welt, die besser sind als alles, was ich jemals schreiben werde. Ich schreibe für mich, ich schreibe, um mein Erleben der Welt zum Ausdruck zu bringen. Ich schreibe aus Lust, aus Freude, aus Bedürfnis, wahrscheinlich auch aus Zwang. Ich schreibe in der großen Hoffnung, dass es jemandem eine Freude zu macht.

 

Auf dem Klappentext wird dein Debütroman „Sonder“ als Roman der Gegenwart“ bezeichnet. Magst du kurz skizzieren, worum es geht und was ihn so gegenwärtig macht?

Na ja, er spielt zunächst einmal in unserer Zeit, in der unmittelbaren Zukunft. Es geht zumindest an der Oberfläche auch um lauter Themen, die sehr gegenwärtig erscheinen: Das Netz, die Globalisiertheit unserer Kultur, das Silicon Valley, solche Dinge. Eigentlich geht es aber, glaube ich, um etwas uraltes, also immer gegenwärtiges: Um Ich und Du, um die Frage, wer wir wesentlich sind und wie sich das zu der Tatsache verhält, dass wir oft einsam sind und ein Gegenüber suchen, das uns zu uns selbst verhilft. Ich glaube außerdem, dass es in dem Roman auch ein bisschen um die Frage geht, wie man richtig lebt.

 

Mitte des 15. Jahrhunderts gab es in ganz Europa 30.000 Bücher, das waren Schätze.

 

Wie empfindest du unsere Gegenwart?

Ich habe neulich bei Doris Lessing gelesen, wie bemerkenswert es sei, dass sämtliche Quellen des Wissens in unserer Zeit so unglaublich zugänglich sind. Sie sprach noch von den modernen Bibliotheken, davon also, dass jeder jederzeit zum Beispiel die Apokryphen lesen kann. So, und dann also jetzt, unsere Zeit, in der gefühlt doch einfach alles – jedes Buch, jeder Film, jede Musik – sofort überall verfügbar ist. Mitte des 15. Jahrhunderts – das steht übrigens auch in meinem Roman – gab es in ganz Europa 30.000 Bücher, das waren Schätze. Ich bin hier ja gefragt worden, also erlaube ich mir auch, zu antworten, ohne die Hoffnung, was ernsthaft Interessantes von mir zu geben. Ich glaube, dass wir in einer tatsächlich bedeutsamen, in einer einmaligen und neuen Zeit leben, in der einerseits ein absolut unerhörter Gipfel an geistigem und materiellem Reichtum erreicht ist, und in der andererseits alles in Frage steht: Weil wir uns der Barbarei bewusst werden, der Entrechtung und Knechtschaft, in der so vieles unserer Kultur fußt. Weil ein großer Kampf darum entbrannt zu sein scheint, ob und inwiefern wir das anerkennen, und was eine solche Anerkennung eigentlich für Folgen haben müsste. Weil das alles vor dem Hintergrund einer Umweltkatastrophe geschieht, die unsere Zeit für die folgenden Generationen, so es sie geben wird, als ein Desaster eben wirklich welthistorischen Ausmaßes markieren wird. Ich empfinde es als großes Privileg, bisweilen aber auch als wirkliches Unglück, in diese große Zeit geboren worden zu sein. Ich frage mich manchmal, ob irgendeine Zeit vor der unseren wirklich stattgefunden hat, die vorhergegangenen Zeitalter erscheinen mir zunehmend in zu vielerlei Hinsicht zu anders. Ich glaube nicht mehr, dass das relativ ist. Ich glaube, Zeiten sind mehr oder weniger interessant, und die Gegenwart ist sehr besonders. 

 

Woher rührt der Name des Titels?

»Sonder« ist ein Kunstwort. Es bezeichnet die Einsicht, dass alle Menschen um uns herum, auch und gerade die, die uns bloß wie Statisten in unserem Dasein erscheinen – der Mann in der U-Bahn auf dem Sitz gegenüber, das Mädchen, das auf dem Fahrrad gerade an uns vorbeifährt – dass all diese Menschen ebenso volle, ganze Existenzen führen wie wir selbst, und dass wir selbst in deren Leben ebenfalls bloß Statisten sind, unbemerkt, egal. Diese Einsicht spielt – ich sprach ja schon vom “Ich und Du” – eine wesentliche Rolle in dem Buch, sie ist eins der zentralen Motive.

 

Für wen hast du den Roman geschrieben? 

Für mich und für die Menschen, die ihn lesen wollen.

 

Ich schreibe keinen bewussten Stil, ich schreibe einfach immer, so gut ich es kann.

 

Wie würdest du deinen eigenen Schreibstil beschreiben?

Ich habe lange gedacht, dass ich gerne eine “Stimme” finden würde, dass das Finden der eigenen “Stimme” den Moment bedeuten würde, in dem ich bei so etwas wie einem genuinen Schreiben angekommen bin. Inzwischen hoffe ich eher, dass ich viele Stimmen finden werde, Stimmen, die der jeweiligen Arbeit den größten Gefallen tun. Ich kann überhaupt nicht sagen, ob das gelingt, ich weiß nicht, ob andere Leute mich beim Lesen sozusagen erkennen können. Ich schreibe keinen bewussten Stil, ich schreibe einfach immer, so gut ich es kann. Ich habe übrigens kaum fixe Kriterien dafür, was das sei. Ich erkenne gutes Schreiben, wenn ich es lese.

 

Wie lange hat es von der ersten Idee bis zur Fertigstellung gebraucht?

Ich habe etwa eineinhalb Jahre an dem Buch geschrieben. Einige Ansätze, einige Figuren und Ideen sind aber natürlich schon viel älter. Manche so alt wie ich selbst.

 

Wie hast du den Schreibprozess erlebt?

Es war ein Riesenspaß, größte Freude, good, clean fun.

 

Wenn die Figuren angefangen haben, Sachen zu machen, mit denen ich nicht wirklich gerechnet hatte, dann war das wunderbar.

 

Was war der erfüllendste Part und was der nervenaufreibendste?

Wenn die Figuren angefangen haben, Sachen zu machen, mit denen ich nicht wirklich gerechnet hatte, und ich selbst ihnen erstaunt zuschauen durfte, wie das ein paar Mal passiert ist, dann war das wunderbar. Es gab nichts Nervenaufreibendes, aber ein bisschen bergauf ging es immer dann, wenn ein neues Kapitel anfing. Und einmal habe ich ein paar Seiten geschrieben an einem Tag, an dem ich mich überhaupt nicht in Form fühlte. Das war ein Fehler, ich habe dann eine Woche gebraucht, um diese Seiten irgendwie gerade zu biegen. Neu anfangen konnte ich sie nicht, ich weiß nicht, warum.

 

Wurdest du zwischendurch von einer Schreibblockade heimgesucht?

Nein.

 

Wer hat – mal ganz abgesehen von dir – am meisten dazu beigetragen, dass aus der ursprünglichen Idee tatsächlich ein Buch entstanden ist?

Meine Frau Shou, meine Agentin Karin Graf, mein Lektor Olaf Petersenn, und die Menschen, die mir vorher gesagt haben, dass ich es doch mal versuchen soll. 

 

Welchen Rat kannst du Menschen mit auf den Weg geben, die ebenfalls Gedanken zu Papier gebracht haben und nun auf der Suche nach einem passenden Verlag sind?

Keinen. Ich habe mein Manuskript meiner Agentin geschickt, über die ich gute Dinge gehört hatte, sie hat es zum Glück angenommen und für den Rest wunderbar Sorge getragen. Ich habe dazu keinen weiteren Beitrag geleistet.

 

Doris Lessing war immens und hat immens geschrieben und gedacht.

 

Welche Lektüre liegt derzeit auf deinem Nachttisch?

„Shikasta“, von der oben erwähnten Doris Lessing, die großartig schreiben und denken konnte und beides offenbar auch viel getan hat.

 

Welches Buch hat dich in letzter Zeit begeistert oder berührt und weshalb?

Ich bin seit ein paar Jahren vollkommen vernarrt in Denis Johnson. Gerade habe ich seine Reportagen gelesen, sie sind alle fantastisch. Die letzte in der Sammlung »Seek« heißt »The Small Boys Unit« und beschreibt, wie Johnson vom New Yorker in den Bürgerkrieg in Liberia geschickt wird und dort in seinen eigenen Augen vollkommen und absolut scheitert, nicht nur an dem Auftrag, sondern auch als Mensch. Seine Aufrichtigkeit, seine Zärtlichkeit, sein Humor, sein unerschrockener Blick, sein liebevolles Herz, seine Sprache, seine Bilder, all das bewundere ich sehr. Ich lese ihn langsam, weil ich ihn schnell nicht lesen kann. Ganz selten nur erwische ich ihn bei einem Taschenspielertrick, aber er war insgesamt und bei weitem ein echter Zauberer.

 

Was für ein Gefühl hast du zu deinem Erstlingswerk?

Ich habe keine Ahnung, ob es was taugt. Aber ich glaube, es ist so gut geworden, wie es werden konnte; besser konnte ich es nicht. Das beruhigt mich, zusammen mit der Erfahrung, dass nach jeder getanen Arbeit die Gelegenheit einer neuen kommt.

 

 

Könntest du jetzt sofort mit dem nächsten Roman loslegen oder benötigst du erst mal eine Verschnauf- und Kreativpause?

Ich habe ja auch eine Familie und einen Job. Sonst würde ich sofort das nächste schreiben. Ich habe dazu große Lust.

 

Was willst du?

Schreiben lernen, besser werden, ehrlicher, genauer, entschiedener, bewusster.

 

LESUNG & DISKUSSION

Am 14. September liest Alard im Rahmen des 3. Debütantensalons des Harbour Front Festivals in der Zentralbibliothek Hamburg aus seinem Roman „Sonder“.

 

Interview: Lesley Sevriens

Fotos: Tobias Kruse

 

 

 

 

 

 

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