Die 1863 begonnene und zu Beginn des Jahres 1864 fertiggestellte Novelle „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ ist heute eines der bekanntesten Prosastücke Dostojewskis neben den sechs so genannten „großen Romanen“. In gewisser Weise nimmt Dostojewski in diesem deutlich schmaleren Band auch schon Ansätze voraus, die er im anschließend geschriebenen Roman „Schuld und Sühne“, der seinen Ruhm zumindest außerhalb Russlands endgültig festigen sollte, breiter ausführt. Die „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ teilen sich in zwei sehr unterschiedliche Teile, die jedoch beide von demselben Protagonisten erzählt werden. Dieser 40-jährige ehemalige Beamte ist dabei kaum auszuhalten und schafft es immer wieder, jedwede Sympathie, die man als lesende Person für ihn aufbringt, durch eine neue Wendung in seinen Tiraden oder in seinem Verhalten der Leserschaft oder der (fiktionalen) Welt gegenüber zu zerstören. Dieser Mann, der seinen gehassten Beruf aufgegeben hat und von einer kleinen Erbschaft in einem, von ihm selbst als Loch bezeichneten, kleinen Appartement lebt (das Kellerloch) und an der modernen Welt mit ihrem Fortschritt, mit Darwin, vor allem aber eben auch mit seiner eigenen Verkorkstheit und Unzulänglichkeit hadert, ist so erstaunlich modern, dass man beinahe meint, ihn – mit Abstrichen – zu kennen. Im wirklichen Leben würde man sich allerdings kaum mehr als fünf Minuten mit einem so gestrickten Individuum abgegeben, ist dies doch ein Charakter, der in seinem ganzen Selbstmitleid und Hass wirklich nur auf dem Papier erträglich und nebenbei auch noch erstaunlich unterhaltsam ist.
Inhalt und Gliederung der Novelle Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
Im ersten Teil der Novelle breitet der Erzähler seine Gedanken zur Gesellschaft und zum „modernen Menschen“ aus. Er schwadroniert, zerfließt in Selbstmitleid, erniedrigt sich und klagt die Welt wie die Menschen an. Dabei richtet er sich an ein nicht genau bestimmtes Publikum, das auch mit „Meine Damen und Herren“ und ähnlichen Wendungen direkt angesprochen wird und dessen Fragen er vorauseilend zu beantworten sucht. Die Leserschaft gerät so in die schräge Situation, gleichzeitig angesprochen zu werden und Objekt der Tiraden dieses Mannes zu sein. Von der Form her ähnelt dieser erste Teil im Ansatz eher einem Essay oder einem mäandernden Vortrag denn einer klassischen Erzählung. Diese Form wird von Dostojewski im zweiten Teil der Novelle gewählt, in dem der ehemalige Beamte Szenen aus seinem Leben wiedergibt: eine Abendgesellschaft mit erfolgreichen ehemaligen Klassenkameraden, bei dem der Erzähler von einem Fettnäpfchen in das nächste taumelt und sich lächerlich macht, worauf seine ehemaligen Kameraden, die ihn wohl sowieso nicht ganz ernst nehmen, völlig von ihm abwenden und sich über ihn lustig machen. Eine zweite Szene beschreibt die Begegnung des Protagonisten mit der jungen, mittellosen Prostituierten Lisa, einem aufgeweckten, liebenswürdigen Mädchen. Nachdem der Protagonist sich mit ihr einlässt, sich als ihr Retter aufspielt und ihr so beginnt Hoffnung zu machen, weist er sie schließlich unter einer Tirade von Selbstvorwürfen von sich und stürzt das Mädchen zurück in ihre hoffnungslose, von bitterer Armut diktierte Lage.
Dostojewskis Stil und autobiografische Züge
Stilistisch unterschieden sich die beiden Teile der Novelle selbstverständlich sehr voneinander. Der essayistische Vortrag an ein Publikum ist dabei ein zur Entstehungszeit der Novelle ziemlich origineller Winkelzug, wenn auch nicht die erste Verwendung dieser Form von direkter, ans Publikum gewendeter Rede, wie man sie ansonsten eher im dramatischen Bereich erwarten könnte. Der zweite, aus Sicht des Protagonisten als Erinnerung erzählte Teil wiederum ist zwar deutlich durch den französischen Naturalismus beeinflusst, wird aber, anders als dies sonst üblich ist, fast schon extrem durch die subjektive Perspektive des Erzählers eingefärbt und birgt neben dem Erzählten selbst weitere hinter- und untergründige Entdeckungen zur Psychologie dieses wirklich seltsamen und absolut nicht liebenswürdigen Kerls. Manche haben in dem Erzähler Dostojewski selbst vermutet und wirklich gibt dieser nicht wenige Ideen und Ansichten wieder, die Dostojewski geteilt hat, andererseits greift diese Gleichsetzung deutlich zu kurz, da diese Ideen von Dostojewski sich beim Protagonisten mit solchen mischen, die ganz klar auf die fiktive Figur zugeschnitten sind. Der ehemalige Beamte dient damit eher als Vehikel, dem zusätzlich alle möglichen absurden und wilden weiteren Ansichten beigegeben werden.
Rezeption der Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
Die Novelle „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ wurde schon mal zum Urtext des Existentialismus, zu dessen Gründungserzählung, erklärt. Dies ist sicherlich ein bisschen weit hergeholt und polemisch überhöht, ganz ohne Frage nimmt Dostojewski in seiner Novelle aber viele Ansichten, Theorien und Perspektiven voraus, welche sich nicht ganz hundert Jahre später auch theoretisch im Existentialismus ausdrücken sollten, für den hier federführend Sartre und Camus angeführt werden können. Vor allem die Irrationalität, die dem Menschen eigen ist und ihn sozusagen unfähig für die Umsetzung materieller Philosophie (Marxismus u.a.) machen, finden ihre Entsprechung in der Novelle. Dies ist auch heute noch – Existentialismus hin oder her – von besonderer und aktueller Bedeutung. Viele der Modelle, mit denen Menschen in der Politik und Wirtschaftswissenschaft versuchen makro- wie mikroökonomische Phänomene zu beschreiben und für diese Modelle zu erarbeiten, setzen den Menschen als ein rein rational handelndes Wesen voraus, was nie gestimmt hat und immer wieder zum Scheitern verschiedenster solcher Modelle und auf ihnen basierenden Maßnahmen beiträgt.
Der Einfluss der Novelle auf Popkultur und Geistesgeschichte
Der Einfluss dieser für Dostojewskis Verhältnisse eher schmalen Novelle kann kaum hoch genug eingeschätzt werden. Von Nietzsche über Freud bis hin zu Kafkas „Metamorphose“, Scorseses „Taxi Driver“ und mindestens die Hälfte aller Woody Allen Filme und Schriften: ohne die „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ wären viele Ideen, Umsetzungen und auftretenden Charakter kaum vorstellbar. Auch wenn der Text sich vielleicht weniger für den Einstieg in das erzählerische Universum Dostojewskis eignet, sondern eher ein Schmankerl für Dostojewski Fans oder Begeisterte der existentialistischen Literatur ist, hat es hier seinen Platz aufgrund des weiten Einflusses in Pop- wie Hochkultur sowie in verschiedenen Wissenschaften gefunden. Und absolut lesenswert ist die Novelle sowieso, wenn sie sich auch nicht immer amüsant, unterhaltend oder einfach zu verdauen gibt.
Der beste, rationalste, nüchternste und abgewogenste Text, den ich zu diesem Buch je gelesen habe. Chapeau!