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Virginia Woolf

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Who is afraid of Virginia Woolf?, fragt der Titel eines 1962 uraufgeführten US-amerikanischen Theaterstückes, das 1966 auch mit Elizabeth Taylor und Richard Burton in den Hauptrollen verfilmt wurde. Kaum ein Wunder damals bei dem ungewöhnlichen Leben und Verhalten dieser Grande Dame der britischen Literatur, die mit dem Bloomsbury Kreis für freie Liebe eintrat, die Rolle der Frau im frühen 20. Jahrhundert so eng und eindrücklich beschrieb, wie kaum jemand sonst, und darüber hinaus auch noch unter einer bipolaren Störung litt. Heute, wo diese Angst wohl über die Berührungsangst mit einem Klassiker selbst bei eingefleischtesten Konservativen kaum hinaus gehen dürfte, gehört Virginia Woolf mit einiger Sicherheit zu den ikonischen und einflussreichsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Sowohl ihre Rolle als avantgardistische Literatin, die zu ihrer Zeit experimentellen Formen des Erzählens, als auch die nach der Wiederentdeckung ihres Werkes in den 60er und 70er Jahren ihr zugeschriebene Vorbildfunktion und Vorreiterrolle für die Frauenbewegung hinterlassen bis heute tiefe Spuren in der Pop- wie Hochkultur. Inzwischen muss Viginia Woolfs Werk als eines der wissenschaftlich am ausführlichsten erforschten schriftstellerischen Oeuvres des 20. Jahrhunderts gelten. Dabei ist auch zu beachten, dass die Untersuchungen einzelner Werke oder Aspekte sich keineswegs auf die Literaturwissenschaft beschränken, sondern von Gender Studies über Psychologie bis hin zu den Kulturwissenschaften und in der bildenden Kunst untersucht und verhandelt werden. Hinter dieser Überfrachtung an Bedeutung und Bedeutungszuschreibung verbirgt sich das wirklich unbedingt eine Entdeckung werte Werk dieser Literatin, das neben aller Zuschreibungen vor allem auch für sich selbst spricht – stilistisch, inhaltlich und jenseits der Urteile und Vorurteile, die man sich vielleicht macht. Wikipedia

Steckbrief

Daten: geboren am 25.01.1882 in London, gestorben 28.03.1941 in Rodmell, Sussex
Geburtsort: London
Sprache(n): Englisch
Hauptwerke oder Reihen: Mrs. Dalloway, Orlando, Zum Leuchtturm, Ein Zimmer für sich allein (Essay)
Rezensierte Bücher: Mrs. Dalloway, Ein Zimmer für sich allein
Genres: Bewusstseins- und Gesellschaftsromane, oft aus Perspektive von Frauen erzählt
Webseite: -
Adaptierte Filme/Serien: Mrs. Dalloway (Film, 1997, Regie Marleen Gorris), Orlando (Film, 1992, Regie Sally Potter), The Hours – von Ewigkeit zu Ewigkeit (inspiriert von Figuren aus Mrs. Dalloway, Film, 2002, Regie Stephen Daldry)
Lesestoff: für alle, die keine Angst vor Virginia Woolf haben natürlich. Und das sind hoffentlich die meisten…

Woolfs Jugend im viktorianischen England

Virginia Woolf wurde als Adeline Virginia Stephens geboren. Ihr Vater, der seinerzeit bekannte Schriftsteller, Historiker und Essayist Sir Leslie Stephen, hatte schon Kinder aus einer ersten Ehe und auch dessen zweite Frau und Virginias Mutter Julia Prinsep Jackson brachte schon Kinder mit in die Ehe, so dass insgesamt 7 Kinder zum Haushalt gehörten. Es ist viel spekuliert worden, dass Virginias Halbgeschwister Gerald und George Duckworth sie missbraucht oder unsittlich berührt hätten, wie dies auch in dem Text Skizzierte Erinnerungen (A Sketch from the Past) von ihr selber angedeutet wird. Geprägt wurde die Jugend von Virginia auch durch die rigiden Moralvorstellungen im viktorianischen England und das enge Korsett, dem Frauen damals ausgesetzt waren und gegen welche sie zeitlebens auf ihre eigene Art mit der Feder rebellieren sollte. Nachdem ihre Mutter am 5. Mai 1895 verstarb, erlitt die zu diesem Zeitpunkt gerade einmal dreizehnjährige Virginia Woolf ihren ersten psychischen Zusammenbruch.

Der Bloomsbury Kreis

Nach dem Tod des Vaters zogen die Stephen Geschwister 1905 nach Bloomsbury in das Haus am Gordon Square 46 um. Die Jour Fixe (oder der Salon) ihres Bruders Throby an jedem Donnerstag entwickelten sich schnell zu einem intellektuellen und progressiven Kreis, der in England bis heute als Bloomsbury Group bekannt ist. Neben anderen Literaturschaffenden wie D. H. Lawrence, Maler*innen wie Roger Fry und Kritiker*innen gehörten dem Zirkel auch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wie die heute weltbekannten John Maynard Keynes und Bertrand Roussel an. Später machte Woolf im Salon der Aristokratin Ottoline Morell auch die Bekanntschaft von Winston Churchill. Höhepunkt – und Skandal – dieser Zeit der Bloomsberries war der Dreadnought Streich, mit dem die progressiven Intellektuellen die Royal Navy und damit auch das Empire bloßstellten, was sogar zu einer offiziellen Auseinandersetzung mit dem Streich der Gruppe im englischen House of Lords führte.

Romandebüt und Hogarth Press

Nach ihrer Heirat mit dem jüdischen Schriftsteller Leonard Woolf im Jahr 1912, der vorher im Kolonialdienst gearbeitet hatte, veröffentlichte Virginia Woolf 1915 Die Fahrt hinaus (The Voyage Out), ihren ersten Roman. Ab 1917 betrieben die Eheleute einen eigenen Verlag, die Hogarth Press, bei dem sie alle anfallenden Arbeiten vom Setzen bis zum Binden selber übernahmen und in dem beide auch ihre eigenen Werke publizierten. Der Fokus von Hogarth Press lag auf moderner Literatur aus Großbritannien, den USA und Russland. Sogar Ulysses von James Joyce wurde dem winzigen Verlagshaus angeboten, wurde von Virginia Woolf, die den Part der Lektorin übernahm, aber abgelehnt.

Mrs. Dalloway und der experimentelle Roman

Virginia Woolfs wohl bekanntester und bedeutendster Roman „Mrs. Dalloway“ zählt heute regelmäßig zu den 100 wichtigsten englischsprachigen Büchern und schafft es auch in internationalen Rankings von kanonischer Literatur immer wieder auf gute Plätze. Man muss nun nichts von diesen Listen halten – aber einflussreich bleibt der an sich eher schmale Roman auf jeden Fall. Nicht nur bietet er einen exzellenten Einblick in das Denken der (eigentlich: einer) Frau im ausgehenden Viktorianismus mit all den Implikationen zu Gesellschaft, Gleichstellung und im weiteren Sinne Feminismus, sondern Mrs. Dalloway ist auch – neben dem in etwa gleichzeitig publizierten Ulysses von James Joyce – die erste Implementation des Stilmittels des Gedankenstroms (Stream of Consciousness) als erzählerisches Stilmittel. Bei einem in Form eines Gedankenstroms erzählten Romans wird die Handlung ganz in das Innere der Personen verlagert und erlaubt ein Nebeneinander von Erinnerung, Erleben, Handlung und Interpretation. Die im Roman Mrs. Dalloway tatsächlich vergehende Zeit beschränkt sich auf einen einzigen Tag, an dem Mrs. Dalloway abends eine Gesellschaft gibt. Durch die Erzähltechnik wird dieser, wie spätere Romane Woolfs auch, zu den experimentellen Romanen gezählt und hat – neben seinen anderen Einflüssen und Bearbeitungen z. B. in der bildenden Kunst – einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Romans. Bis heute bildet der Gedankenstrom in verschiedenen Formen eine der wichtigsten Erzähltechniken für den modernen Roman, wobei diese Technik heute auch häufig weniger radikal als eine Form Einschub oder im Wechsel von Perspektiven genutzt wird und schon lange nicht mehr auf das Genre der so genannten „ernsten Literatur“ beschränkt ist.

Selbstmord, Einfluss, Rezeption

Virginia Woolf begeht 1941 während einer neuen Episode ihrer manisch-depressiven bipolaren Erkrankung Selbstmord. Sie hinterlässt ein bedeutendes Werk aus Romanen und Essays, das bis in die 60er Jahre, im deutschsprachigen Raum sogar größtenteils bis in die späten 70er und frühen 80er Jahre in Vergessenheit gerät. Die Wiederentdeckung ging in verschiedensten Formen zumeist auch mit einer Art Vereinnahmung des Werkes (und nicht selten auch der Person) Virginia Woolfs einher. Hippies und Neopagane Strömungen in den USA sahen in der herausragenden weiblichen Figur des Bloomsbury Kreises eine Vorstreiterin für die von ihnen proklamierte „freie Liebe“. LGBT Kreise wiederum sehen in Woolfs häufig androgynen Frauenfiguren und dem Spiel mit dem Geschlecht, wie es nicht selten eine gewisse Rolle in Woolfs Romanen spielt, gerne eine frühe Advokatin für ihre Anliegen. Auch Teile der Frauenbewegung und im weiteren Sinne des Feminismus entdeckten Woolfs Werk für sich und hier hat es wohl auch am meisten langfristige Wirkung und Auseinandersetzung mit sich gebracht, die keineswegs immer nur positiv ist. Positiv muss man bewerten, dass trotz all dieser Überfrachtungen und Vereinnahmungen das Werk als Literatur bis heute Bestand hat und immer parallel zu allen Partikularinteressen gelesen wurde. Angst muss man übrigens nicht haben. Zuallererst einmal ist Woolf eine herausragende Schriftstellerin mit einer eigenen Stimme und einer sehr sensiblen Sicht auf ihre Zeit und die Umstände, die man unbedingt für sich entdecken sollte.