Thomas Pynchon
Der US-amerikanische Schriftsteller Thomas Pynchon (mit vollem Namen Thomas Ruggles Pynchon Jr., geboren am 08. Mai 1937 in Glen Cove auf Long Island, New York) zählt zu den herausragenden Vertreter*innen der literarischen Postmoderne. Gerade seine Romane „Die Enden der Parabel“ (im Original Gravity´s Rainbow) oder V. gelten dabei als Paradebeispiele der Slipstream-Literatur (Werke im Grenzbereich zwischen avantgardistischem Roman und Science Fiction). Obwohl Pynchon inzwischen seit über 40 Jahren als Schriftsteller arbeitet, ist das Werk überschaubar und besteht aus lediglich acht Romanen und einigen Kurzgeschichten. Die Dichte und Komplexität der von einem eng geführten Gewebe von Bezügen, verschiedenen Ebenen, kleinen, oft fein-ironischen Songtexten, Anspielungen und geradezu von enzyklopädischer Informationsfülle durchzogenen Erzählstruktur von Pynchons Prosa, die auch vor den Namen der auftretenden Charaktere nicht Halt macht, wird gerne mit James Joyce verglichen. Inhaltlich befinden sich die handelnden Personen oft auf der Suche nach etwas, wie etwa Oedipa Maas in „Die Versteigerung von No. 49“, die glaubt, einer Geheimgesellschaft auf die Spur gekommen zu sein, oder die zertifizierte Betrugs- und Wirtschaftsdetektivin Maxime Tarnow in Pynchons jüngstem Werk „Bleeding Edge“ aus dem Jahr 2013. Tarnow untersucht seltsame Vorkommnisse und Unregelmäßigkeiten bei der Computersicherheitsfirma Hashlingerz und deren undurchsichtigen Chef Gabriel Pierce.
Das Suchen ist bei Pynchon allerdings oft eher Selbstzweck denn ein echter Weg zum Auffinden des Gesuchten und spiegelt nicht selten das Erlebnis des Lesens der Prosa wieder, bei der sich die Leserin und der Leser ebenso auf die Suche nach Sinn begeben. Als klar der postmodernen Literatur zuzuordnende Werke übernehmen diese natürlich auch deren zentralen Ansatz des Spiels mit Möglichkeiten und Annäherungen an verschiedenste mögliche Wahrheiten, ohne die Erkennbarkeit von etwas Wirklichem jenseits eines fiktiven Gedankenspiels zu akzeptieren.
Steckbrief
Daten: geboren am 08. Mai 1937, lebt und arbeitet in New York
Geburtsort: Glen Cove, Long Island (New York)
Sprache(n): Englisch
Hauptwerke oder Reihen: Die Enden der Parabel, Die Versteigerung von No. 49, Inherent Vice
Rezensierte Bücher: Die Versteigerung von No. 49, Bleeding Edge
Genres: postmoderne slipstream-Literatur, historisch-surreale Romane (Mason & Dixon), am Krimi-Genre orientierte, komplexe Gesellschaftsromane (Bleeding Edge)
Webseite: http://www.thomaspynchon.com (Fanwebseite mit Analysen, Referenzen, Besprechungen etc.)
Adaptierte Filme/Serien (Auszug): Inherent Vice (Film mit Joaquin Phoenix und Josh Brolin, Regie Paul Thomas Anderson, 2014), Prüfstand VII (Film basierend auf Pynchons Die Enden der Parabel, Regie Robert Bramkamp, 2002)
Lesestoff: Für alle, die am Ende eines Buches nicht unbedingt alles verstanden haben müssen und sich für Intertextualität erwärmen können.
Das Mysterium Pynchon
Thomas Pynchon ist in gewisser Weise ein Mysterium. Außer den grundlegenden Eckdaten und ein paar einfach zu recherchierenden Hintergrundinformationen ist so gut wie nichts bekannt über diesen zurückgezogen lebenden Autor. Damit steht er in einer beinahe schon als Tradition zu bezeichnenden Eigenheit, die unter US-amerikanischen Autorinnen und Autoren anzutreffen ist. Ein anderes prominentes Beispiel für so einen Rückzug wäre der 1991 verstorbene J.D. Salinger, der sich nach dem Erfolg von „Der Fänger im Roggen“ (The Catcher in the Rye) bald komplett aus dem öffentlichen Leben zurückzog und nach 1963 auch kaum mehr publizierte. Pynchon lebt fast genauso zurückgezogen und es existieren außer einigen Aufnahmen aus den 60ern, u. a. seiner Zeit bei der US Navy, keine autorisierten Fotos von ihm. Einer New Yorker Zeitung gab Pynchon einmal ein Interview, da einer deren Reporter ihn aufgespürt hatte – dafür verpflichtete sich die Zeitung, das Foto, das der Journalist von Pynchon und seinem Sohn geschossen hatte, nicht zu veröffentlichen. Ansonsten gibt Pynchon eigentlich schon seit Jahren bzw. Jahrzehnten keine Interviews mehr und korrespondierte mit den Medien wenn überhaupt schriftlich und nicht selten durch einen Anwalt.
Eine alte Familie
Thomas Pynchon gehört zu einer sehr alten und bekannten neuenglischen Familie. Sein Vorfahre, William Pynchon, gehörte 1630 zu den Gründern der Kolonie Massachusetts. Der Familienname taucht als Pyncheon auch in Nathaniel Hawthornes Roman „Das Haus der sieben Geister“ (1851) auf. Die alten, puritanischen Wurzeln der eigenen Familie sind wohl ein Grund, warum Pynchon sich in seinen Romanen immer mal wieder mit diesen und dem Heilsversprechen einer gottgewollten Landnahme auseinandersetzt, auf der so viele Aspekte der US-amerikanischen Kultur beruhen und bis heute eine – nicht selten zweifelhafte – Wirkung entfalten. Auch das eine Familientradition, wenn man so will, ist doch das 1650 in London publizierte Traktat The Meritorious Price of our Redemption, in dem der oben genannter William Pynchon sich gegen die Prädestinationslehre (Gott bestimmt das Schicksal der Menschen schon bei ihrer Geburt) stellt, eines der ersten Bücher, die auf amerikanischem Boden verboten und gar öffentlich verbrannt wurden. William Pynchon wurde zudem der Häresie bezichtigt, eine Anklage erfolgte aber offensichtlich nicht.
Jugend, erster Roman und das wenige, was danach über Pynchon bekannt ist
Seine Jugend verbrachte Pynchon auf Long Island, wo er die Oyster Bay High School besuchte. Nach seinem Schulabschluss 1953 studierte Pynchon zuerst Physik und dann englische Literatur an der Cornell Universität, wo er unter anderem bei Vladimir Nabokov Kurse besuchte. 1955 unterbrach Pynchon gezwungenermaßen für zwei Jahre seine akademische Laufbahn und leistete seinen zweijährigen Wehrdienst bei der US Navy ab. Aus dieser Zeit stammen auch einige der wenigen Fotos des Schriftstellers, die öffentlich zugänglich sind, keines davon ist weniger als vierzig Jahre alt. Nach einer kurzen Episode als technischer Redakteur bei Boeing zieht sich Pynchon nach dem Erfolg seines Debütromans V. aus dem geregelten Arbeitsleben zurück und lebte wohl bis in die späten 80er oder frühen 90er Jahre an der amerikanischen Westküste, u. a. in Manhattan Beach, Los Angeles County. Seit den 90ern lebt er mit Frau und Sohn in New York. Der geheimnisvolle Schriftsteller, von dem man nicht einmal weiß, wie er heute aussieht, ist inzwischen auch eine Art Bestandteil der US-amerikanischen Popkultur. Neben Anspielungen aller Art in Songtexten und anderen popkulturellen Erzeugnissen tritt er allein in der Zeichentrickserie Die Simpsons in drei Episoden als gelbe Cartoonfigur mit einer braunen Papiertüte über dem Kopf auf. Auf die Papiertüte ist obendrein noch ein Fragezeichen gemalt. Eine recht passende Darstellung möchte man meinen.
Werk und Rezeption
Obwohl das Werk Thomas Pynchons, wie eingangs angesprochen, mit lediglich acht Romanen und einigen Kurzgeschichten vom Umfang her eher schmal ist, gilt er als einer der bedeutendsten amerikanischen Schriftsteller und Schriftstellerinnen seiner Generation. Neben einer großen Resonanz bei den nachkommenden Generationen von Literaturschaffenden ist er auch bei Leserinnen und Lesern weltweit durchgehend beliebt. Dabei sind vor allem die Techniknähe und das Verständnis oder der Versuch des Verstehens der Auswirkung von Technologie auf die Kultur bei Pynchon ein Glücksfall, wenn man so sagen darf. Kaum ein anderer Schriftsteller oder eine andere Schriftstellerin hätte sich im Alter von fast siebzig Jahren noch mit dem Darknet, Thor und deren Bedeutung so fundiert auseinandergesetzt, wie Pynchon dies (unter anderem natürlich) in Bleeding Edge tut. Daneben ist vor allem die Suche als Suche nach Sinn, als Suche nach sich selbst, als Suche nach Erkenntnis vielleicht ein zentrales Thema bei Pynchon, das in allen seinen Romanen auf die eine oder andere Weise Gestalt gewinnt. Das andere große Thema ist eine Art Innenschau der US-amerikanischen Kultur. Dies gelingt Pynchon auf ganz unterschiedliche Weise in verschiedensten seiner Romane auf eine doch erstaunliche Weise, ist aber, wenn man zum Beispiel „Die Versteigerung von No. 49“ aus der Mitte der 60er Jahre heranzieht, inzwischen eher aus einer historischen Perspektive relevant.