Blaue Blume – Die Wiederverzauberung der Welt

Fotos by: Blaue Blume e.V.  & Daniela Schenk

Blaue Blume – Die Wiederverzauberung der Welt

Interview mit Jennifer Kunstreich 

 

Blaue Blume – der Name erinnert an die Romantik und an Romane wie Heinrich von Ofterdingen von Novalis. Der Berliner Verein Blaue Blume e.V. hat sich „Die Wiederverzauberung der Welt“ auf die Fahnen geschrieben. Ein ebenso ungewöhnliches wie poetisches Unterfangen.
Der Verein arbeitet mit den unterschiedlichsten Therapeuten, Coaches und Naturheilkundlern zusammen und lädt in Form von Workshops und Festivals dazu ein, magisches Neuland zu betreten. Wir haben mit der Sozial-und Kulturwissenschaftlerin Jennifer Kunstreich, Co-Gründerin des Vereins und Pionierin einer neuen Kultur, über die Sehnsucht nach Unendlichkeit, über magisches Denken, Selbstwirksamkeit und über die heilende Wirkung der Natur gesprochen.

 

„Die Welt muss romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisiere ich es.“ (Novalis)

 

2017 habt ihr, Jakob Ellwanger, Dr. Andrea Mess und du den Verein Blaue Blume e.V. ins Leben gerufen. Wie würdest du den Kerngedanken, der eurem Festival zugrunde liegt, beschreiben?

In der Wiederverzauberung der Welt steckt ein Perspektivwechsel. Es geht darum, das Schöne, das Fremde und das Beste in den Dingen und Beziehungen zu sehen und dadurch Veränderungspotenzial zu schaffen.

 

 

Bei euren Veranstaltungen steht ganz klar die Freude am Spiel im Fokus, statt „der Ernst des Lebens“ …

Auch wenn es ein abgedroschenes Wort ist, geht es um Potentialentfaltung. Also darum, selbstermächtigt seinen Weg zu gehen. Oftmals fühlen die Menschen sich ja gar nicht mehr aufgrund der vielen gesellschaftlichen Vorgaben. Es geht uns darum, genau das freizulegen, um wieder zu spüren: „Wer bin ich denn eigentlich und wie war ich gemeint?“ Das kann man ganz wunderbar durchs Spielen erreichen. Das bleibt zunächst folgenlos und man kann sich erst mal mal in Ruhe ausprobieren. Dadurch werden Sehnsüchte geweckt. Diese Spielerfahrungen wirken sich dann auch aufs echte Leben aus.

 

Wie kann ein leichteres, verspielteres und selbstbestimmteres Leben gelingen?

In der Romantik geht es um eine progressive Universalpoesie. Also darum, das Schöne im Alltäglichen zu erkennen, etwa Lichtflecken auf der Straße, die einen bezaubern. Wenn mir das gelingt, stellt sich mit der Zeit eine viel größere Leichtigkeit ein, die ich als Ressource nutzen kann. Denn wenn ich das Leben als Spiel betrachte, dann verhake ich mich nicht so schnell, sondern kann mich spielerisch durchs Leben bewegen und mal hier mal dort eintauchen und unterschiedliche Spielzüge ausprobieren, ohne gleich zerrissen zu sein. Bei unserer Arbeit nutzen wir unter anderem auch die Philosophie des Possibility Managements, dort geht es darum, verschiedene Möglichkeiten und Wege auszuprobieren und aus alten Strukturen auszubrechen.

 

 

Welche Werte möchtet ihr auf euren Workshops und Festivals vermitteln?

Die Blaue Blume ist das Symbol für die Sehnsucht nach Verbindung. Deshalb beruhen unsere Festivals und Workshops auf vier Säulen. Erstens: die Verbindung zu sich Selbst, zweitens: die Verbindung zu anderen – da geht es viel um Miteinandersein und Kommunikation. Drittens die Verbindung zur Natur. Diese kreieren wir unter anderem mit Kunstformen wie Land Art, empathischer Naturkunde oder Jahreskreisfesten. Die inneren Themen mit den Zyklen der Natur zu spiegeln, hat eine unglaubliche Tiefe. Da entsteht ein erdiger, tiefer und solider Referenzraum. Und viertens: die Verbindung zur Kunst und Poesie, da Kunst und Poesie diesen wunderschönen Verfremdungscharakter haben. Durch sie kann man nichtsagbare Dinge ausdrücken.

 

Wir sind Teil der Natur. Wenn wir wieder lauschen lernen, kann vielleicht einiges heilen, in uns und um uns.

 

Du hast vor einigen Jahren eine wildnispädagogische Ausbildung absolviert. Davon habe ich noch nie zuvor gehört. Was genau lernt man da?

Zu Anfang der Ausbildung füllt man einen „Einheimischen-Test“ aus, um herauszufinden, wie verwurzelt man mit seiner heimischen Umgebung ist. „Was weiß ich eigentlich übers Wetter? Wie viele Tiere und Pflanzen kenne ich?“ Am Ende der Ausbildung absolviert man den Test dann noch einmal. Inzwischen spaziere ich nicht einfach mehr einen Weg entlang, sondern kenne die Zusammenhänge, ich weiß, welche Ökosysteme es gibt und wie sie funktionieren. Theoretisch wäre ich in der Lage, acht Monate lang in der Natur ohne Bezüge zu überleben. Jetzt weiß ich, was ich essen und wie ich Behausung und Kleidung herstellen kann. Das gibt mir ein sehr schönes Gefühl von Freiheit und Unabhängigkeit. Auch als zivilisierter Computermensch kann man wieder an uralte Instinkte andocken und feststellen, dass da noch ganz viel an Wildheit in einem ist.

 

Welchen Einfluss hat die Natur auf unser seelisches Wohlbefinden?

Die Natur stellt für mich ein starkes Bezugs- und Wertesystem dar Zudem verströmt sie eine unglaubliche Ästhetik, die sehr wohltuend ist. Wir arbeiten eng mit Naturkundlern zusammen, die wissen, dass es ein ganz großes Bedürfnis nach der wohltuenden Wirkung von Natur gibt. Vor allem im asiatischen Raum gibt es sehr viele Therapieformen, die gezielt mit der Natur arbeiten und sich damit beschäftigen, welche Art von Landschaft am meisten heilt. Studien belegen, dass Menschen im Krankenhaus schneller gesund werden, wenn sie auf einem Baum gucken. Wir sind Teil der Natur. Doch wir haben uns von ihr entfremdet und gehen nicht mehr mit den Zyklen. Doch jetzt holt uns der Klimawandel ein. Wenn wir wieder lauschen lernen, kann vielleicht einiges heilen, in uns und um uns.

 

 

Besonders in Berlin gibt es viele lose Beziehungen und gleichzeitig eine große Sehnsucht danach, dass eine Beziehung belastbar ist und dass diese Verbindung auch hält.

 

Wonach sehnen sich die Menschen heute?

Ich nehme derzeit eine gewisse Verlorenheit wahr. Eine ganze Weile galt es, fleißig zu arbeiten und eine Kleinfamilie aufzubauen. Doch aktuell bröselt das alles und es geht darum, größere Zusammenhänge zu denken, nicht zuletzt aufgrund der so genannten „Climate Change Depression“. Zudem gibt es kaum noch Vertrauen in Beziehungen. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat drei verschiedene Kapitalformen definiert: Nämlich das soziale, das finanzielle und das kulturelle Kapital. Der Mensch braucht von allen drei Formen etwas. Leider halten viele Menschen soziale Kapital nicht für besonders belastbar. Besonders in Berlin gibt es ganz viele lose Beziehungen und gleichzeitig eine ganz große Sehnsucht danach, dass eine Beziehung belastbar ist und dass diese Verbindung auch hält. Die Menschen sehnen sich nach einem Sinnsystem und nach Menschen, mit denen sie diesen Weg gemeinsam gehen können.

 

Nach spirituellen Workshops und Festivals wie der Blauen Blume stellt sich bei mir immer eine Art Natural High ein. Ich denke, es liegt daran, dass aufgrund der Intensität der vielen zwischenmenschlichen Begegnungen unglaublich viele Endorphine ausgeschüttet werden. Nach eurem Festival vergangenen Sommer habe ich mich jedenfalls tief beseelt gefühlt …

Ja, wir holen die Menschen bewusst aus ihren Bezügen raus und entführen sie in eine Spielwelt. Das ist eine tiefe, beglückende Resonanzerfahrung. Es geht uns jedoch nicht darum, ein einmaliges High zu schaffen, sondern um einen langfristigen Mindshift.

 

Wie kann es gelingen, diese Intensität und Unvoreingenommenheit anderen Menschen gegenüber in den Alltag zu transportieren, statt unsere Mauern hochzufahren und in altes Schubladendenken denken zu verfallen?

Durch Netzwerke. Die Blaue Blume ist ja nur ein Teil von ganz vielen Netzwerken und von einer neuen Kultur, die gerade entsteht. Es gibt ganz viele Menschen, die auf einem ähnlichen Weg sind. Vor ein paar Jahren habe ich auf der Global Ecovillage Network Conference im ZEGG (Zentrum für experimentelle Gemeinschaftsgestaltung) in Bad Belzig gefilmt. Dort kommen visionäre Lebensgemeinschaften und Projekte aus der ganzen Welt zusammenkamen. Da habe ich das erste Mal gemerkt, dass die Bewegung viel größer ist, als ich dachte. Das hat mich tief berührt.

 

 

Glaubst du, dass die Sehnsucht nach einer Flucht aus der aktuellen Realität in eine neue Welt heute größer ist, denn je?

Ich glaube, unsere Sehnsucht hat sich seit der Romantik kaum verändert. Sie kommt zu verschiedenen Zeiten wellenartig wieder hoch. Aktuell wird die Sinnsuche durch die hohe Präsenz des Klimawandels wieder stärker. Außerdem erleben wir gerade eine ganz große Veränderung der Arbeitswelt. Früher hat man sich ganz stark über Arbeit definiert. Und das bricht gerade alles auf. Deshalb habe ich mich auch viel mit neuen Arbeitsformen auseinander gesetzt. Wir sind arbeiten unter anderem eng mit dem Netzwerk Leadership Hoch 3 zusammen. Die machen super spannende Arbeit, in der es um kollektive Führung und um eine regenerative Form des Arbeitens.

 

Ich glaube, die meisten Menschen haben große Angst davor, sich berühren zu lassen. „Bin ich so gewollt, wie ich bin?“ – das ist ein Grundthema, das immer wieder aufkommt.

 

Kann es sein, dass wir in unserer von glatten Displays und gephotoshoppten und gebotoxten Gesichtern verlernt haben, uns wahrhaftig berühren zu lassen und andere zu berühren?

Ja, ich glaube, die meisten Menschen haben große Angst davor. Da kann ich mich selbst einschließen. Das letzte halbe Jahr haben wir in unserem Verein bewusst ganz viel Gruppenprozessarbeit gemacht. Ein Grundthema, das dabei immer wieder aufkam, war: „Bin ich gewollt, so wie ich bin? Darf ich hier sein, auch wenn ich nichts leiste, auch wenn ich defekt bin, auch wenn die Masken mal fallen?“

 

Wie wichtig ist die Fähigkeit, Verletzlichkeit zuzulassen?

Das ist ein Lernprozess und der braucht Reife – von innen und von außen. Und Langsamkeit: Man öffnet sich ein Stück weit, bringt sich wieder in Sicherheit und öffnet sich wieder ein Stück. Auf die Weise kann man lernen, dass Beziehungen belastbar sind. Das braucht eine gewisse Distanz zu den eigenen Verletzungen. Aber man kann lernen, dass das Umfeld den Schmerz halten kann, das ist das Schöne!

 

 

 

Was müssen wir dringend wieder erlernen?

Den Glauben, dass unsere Sehnsüchte und Träume etwas wert sind und dass sie Realität werden können. Es geht darum, den Traum auf die Erde zu holen. Dafür braucht es Netzwerkarbeit und Ressourcenakquise. Auf der einen Seite haben wir das Luftige – die Träume – und auf der anderen Seite das Bodenständige – unsere Lebensumstände und Talente. Es gibt Wege, beides miteinander zu verbinden.

 

Ist das, was ihr im Rahmen eurer Vereinsarbeit kreiert eine Utopie oder tatsächlich eine realistische schönere neue Welt?

Wir tun unser Bestes. Es nicht zu versuchen, wäre ein großer Fehler.

 

Ich hoffe, dass ein grundsätzlicher Mindset-Wandel stattfindet. Die Zeichen sprechen dafür.

 

Glaubst du, dass Festivals und Vereine wie die Blaue Blume in naher Zukunft zum Mainstream gehören könnten?

Die Zeichen sprechen dafür. Es ist ja noch gar nicht lange her, dass Yoga noch etwas ganz Komisches war. Inzwischen macht jeder Banker Yoga und Unternehmen haben ihre eigenen Meditationsräume. Ich hoffe, dass ein grundsätzlicher Mindset-Wandel stattfindet.

 

Was wünschst du dir für dich und für euren Verein für die Zukunft

Wir sind gerade dabei, ein kleines Seminarhotel in der Uckermark zu kaufen. Wir wollen dort einen Ort schaffen, an dem wir auf der einen Seite als Gemeinschaft leben und auf der an deren Seite unsere Veranstaltungen machen können. Ein Ort, an dem wir unsere ganzen Ideale nicht nur für fünf Tage, sondern über einen langen Zeitraum miteinander leben und weitergeben können. Wir haben so viele Ideen, das Netzwerk wird immer größer. Ich würde mir wünschen, dass wir ein Modellprojekt verzauberter Humanisten werden und dass es in Zukunft viele Ableger geben wird.

 

 

Was wünschst du dir für die Menschheit?

Entschleunigung, eine Reduktion auf die Essenz und die Fähigkeit, wieder viel mehr wahrzunehmen. Es war besonders jetzt in Coronazeiten schön zu sehen, wie wenig man eigentlich braucht.

 

Apropos: Wie wirkt sich die Coronakrise eigentlich auf eure Vereinsarbeit aus?

Die Kerncommunity besteht natürlich weiterhin. Wir schreiben aktuell einen Businessplan und sind gerade dabei, die Gemeinschaft weiter auszubauen. Unsere Veranstaltungen sind ja nur ein Teil unserer Tätigkeiten, die Vereinsarbeit ist viel tiefgreifender. Aufgrund von Corona musste unser diesjähriges Blaue Blume Festival leider ausfallen. Es war jedoch extrem berührend, dass insgesamt nur sechs Leute ihr Geld für das Festival zurückhaben wollten. Die anderen warten einfach aufs nächste Jahr. Das ist ein wunderbares Kompliment und schenkt uns Stabilität.

 

 

Gibt es Bücher, die du unseren Leser*innen abschließend empfehlen kannst?

Die Kraft des bewussten Fühlens. Ein Handbuch, um näher an Ihrer eigenen Wahrheit zu leben von Clinton Callahan, Romantik. Eine deutsche Affäre von Rüdiger Safranski und Rettet das Spiel. Weil Leben mehr als Funktionieren ist von Gerald Hüther. Die drei zusammen spiegeln das Weltbild der Blauen Blume ganz gut wider!

 

Interview: Lesley Sevriens

Fotos: Blaue Blume e.V. & Daniela Schenk

 

2 Kommentare

  • HeikeMaria unVORStellBAR Antworten

    Liebe Jenny, (und andere): Vielen lieben Dank für die wunderbaren gut verständlich und komprimiert zusammen gestellten Worte , die den Sinn bestätigen, den ich gänzlich unterstütze. Wir „retten” unsere Erde, indem wir uns und andere verzaubern. Thanx und das SeeGut wird wahr – gaaannnzzzz bald👍

  • Hey liebe HeikeMaria, danke für deine Worte. Es freut uns ungemein, dass Dir das Interview gefallen hat. Wir sind selber sehr gespannt auf SeeGut, das wird sicher zauberhaft ; ) Deine Schriftsteller.de Redaktion

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