Der 1981 erschienene fünfte Roman des amerikanischen Schriftstellers John Irving ist wohl auch einer seiner bekanntesten – und war oder ist für nicht wenige vielleicht der erste bewusste Berührungspunkt mit dem Werk des Autors. Dabei spielt vielleicht auch das – oder besser die – Settings eine Rolle. Wie man dem Titel „Das Hotel New Hampshire“ schon entnehmen kann, spielt dieser Roman in Hotels. Und zwar nicht nur in einem, sondern gleich in fünf verschiedenen, von denen drei „Hotel New Hampshire“ heißen. Vom Genre her ist „Das Hotel New Hampshire“ eine Mischung aus Entwicklungsroman und einer Familiengeschichte, die zu weiten Teilen durch die Augen, das Erleben und Leiden des Protagonisten John Berry, des mittleren und – wie Irving nicht vergisst anzumerken – am wenigsten voreingenommenen der fünf Berry Kinder erzählt wird. Die Handlung des Romans erstreckt sich von den frühen 40ern bis in die späten 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, konzentriert sich dabei aber hauptsächlich auf die Kindheit und Jugend der Berry Kinder.
Das Leben einer Familie in fünf Hotels – die Handlung von Das Hotel New Hampshire
Die Familiengeschichte der Berrys setzt mit dem Kennenlernen der Eltern bei einem Sommerjob im „Hotel Arbuthnot“ ein, wo sie auf den österreichischen Juden Freud (Wink mit dem Zaunpfahl) und dessen gezähmten, dummen Bären treffen. Kurz darauf heiraten die beiden und die ersten drei Kinder (Frank, Franny und Ich-Erzähler John) kommen zur Welt. Nach dem 2. Weltkrieg eröffnet die Familie auf Wunsch des Vaters in Dairy ein erstes „Hotel New Hampshire“ in der ehemaligen Mädchenschule – und der Kummer (übrigens auch der Name es Familienhundes) mit den Fährnissen der Welt, in ihrer Form und Häufung zeitlich wie räumlich in einer einzigen Familie natürlich total überspitzt, beginnt. Franny wird von Chipper Dove und Teilen des Football-Teams ihrer Schule vergewaltigt, Kummer stirbt und wird ausgestopft. Der ausgestopfte Hund, der aus einem Schrank stürzt, führt zum Herzinfarkt des Opas, die Familie zieht nach Wien, zu Freud in dessen Hotel, das Flugzeug mit der Mutter und dem jüngsten Egg stürzt ab und beide sterben, Lilly, die zweitjüngste, entscheidet mit sieben Jahren nicht mehr zu wachsen und in Wien lebt die Familie zwischen Prostituierten, Radikalen mit unklaren politischen Ideen, einem Bären, der eigentlich eine junge Frau in einem Bärenkostüm ist, dem blinden Freud in einem heruntergekommenen zweiten „Hotel New Hampshire“, das wieder kein Erfolg wird. Nach Wien geht es – durch Lillys Erfolg als Schriftstellerin finanziell endlich abgesichert – nach New York. Dort wohnt die Familie im Hotel Stanhope und versucht zur Normalität zurückzufinden – nicht ohne auf total abgedrehte Weise an Chipper Dove Rache zu nehmen. Das Buch endet mit einem Epilog und dem dritten „Hotel New Hampshire“, welches eigentlich nur als Attrappe für den inzwischen, wie der lang verstorbene Freud, erblindeten Vater dient, damit dieser das Gefühl hat, wieder ein Hotel zu besitzen. Dort wohnt John mit dem Vater, Lilly stürzt sich aus dem 14. Stock des Stanhope in New York in den Tod, die anderen beiden, Frank und Franny, finden endlich so etwas wie Normalität und diese wilde, surreale, brutale, traurige und die Leserschaft trotzdem oft zu regelrechten Lachtränen anregende Familiengeschichte mit ihren vielen Tiefen und wenigen Höhen endet.
John Irvings Stil und die Groteske als erzählerisches Mittel
Im Theater gibt es mit dem in den 50er Jahren vor allem in Frankreich entstehenden absurden Theater, eine regelrechte Stilrichtung für die Überspitzung, das Groteske, die Macht des Absurden. Paradebeispiele sind Ionescus „Einhörner“, Becketts „Warten auf Godot“ und – natürlich – das schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Stück „Roi Ubu“ (König Ubu) von Alfred Jarry. In gewisser Weise überträgt Irving die Grundprinzipien des Absurden auf die Prosa und schafft durch groteske, nicht selten schreckliche Szenen, absurde Situationen und Lebenswelten mit einer teils drastischen Komik, die durchaus um ihre Pointen weiß. Anders als die stillere Ironie geht die Groteske aufs Ganze und darüber hinaus – bei Irving mit einer zwar sprachgewaltigen aber nicht unbedingt poetischen Sprache.
Das Hotel als Schauplatz in Literatur und Film
Ein Hotel als Setting eignet sich als ganz eigener Mikrokosmos immer ganz hervorragend für Fiktionen in verschiedenen Medien – vom Film über Literatur bis hin zur Oper oder zur Graphic Novel, bei uns immer noch meist einfach Comic genannt. Die geschlossene und zugleich offene Welt eines Hotels bietet – wie Züge, Kreuzfahrtschiffe und Ähnliches – einen sozusagen natürlichen Nährboden für Kammerstücke und das Aufeinander- und Zusammentreffen verschiedenster Temperamente, Charakter und gesellschaftlichen Schichten. Zwar stehen diese Aspekte in Irvings Roman eher im Hintergrund, nichtsdestotrotz nutzt er die Magie und die Besonderheiten des Ortes Hotel, die diese Familie, insbesondere die Eltern, derart in den Bann geschlagen haben, als eine Art Vehikel für die überspitzten, grotesken und nicht selten urkomischen Szenen – wie sie für Irvings Erzählstil so typisch sind – entlang deren das Aufwachsen der Kinder und das ewige herumziehen der Familie beschrieben wird.
Fazit zu John Irvings Roman Das Hotel New Hampshire
Ein generelles Problem und seltsamerweise gleichzeitig eine Stärke der Literatur des amerikanischen Schriftstellers John Irving ist die Nutzung der gleichen Motive, Grundkonflikte, Erzählansätze und Inhalte. Das Ganze kommt dabei nicht als Recycling daher, sondern wird von Buch zu Buch neu und – mehr oder weniger frisch – aufbereitet. Wer sich daran nicht stört und Spaß an der Groteske hat, der wird in Irving mit einiger Sicherheit einen Lieblingsschriftsteller finden. Für andere wird die Bekanntschaft mit Irving vielleicht nur für zwei Romane wirklich innig sein. Ein Kennenlernen und sich Bekanntmachen mit diesem außergewöhnlichen erzählerischen Universum, das zurecht beinahe schon mit Bestseller-Garantie daherkommt, lohnt sich aber allemal und „Das Hotel New Hampshire“ ganz besonders.