Der Mann, der den Zügen nachsah

Georges Simenons 1938 publizierter Roman „Der Mann, der den Zügen nachsah“ (Originaltitel: L´Homme qui regardait passer les trains) gehört zu den psychologisch spannendsten Werken des Autors und lässt sich nur schwer in ein Genre einreihen. Heutzutage würde man es wohl klar als Literatur im Kunstsinn bezeichnen. Insbesondere in den USA wurde dieser Roman Simenons zu einem derartig durchschlagenden Erfolg, dass er den amerikanischen Krimischriftsteller*innen den Rang abzulaufen drohte. Dabei handelt es sich bei „Der Mann, der den Zügen nachsah“ streng genommen gar nicht um einen Kriminalroman, auch wenn er Elemente aus diesem übernimmt und ein Verbrechen der Auslöser ist. Dieses Verbrechen zieht, beinahe notwendigerweise, weitere Verbrechen nach sich. Der Roman folgt dabei aber nicht einem Kriminalkommissar, einer Kriminalkommissarin oder Privatdetektiv*in und es gibt keine Ermittlungen. Stattdessen konzentriert sich die Erzählhaltung ganz auf den Protagonisten Kees Popinga, dessen Leben aus den Fugen gerät und der langsam dem Wahnsinn anheimfällt, bis er schließlich in Paris für mehrere begangene Verbrechen gefasst und anschließend in die Psychiatrie überstellt wird. Dort schreibt er am Ende des Romans die „Wahrheit über Kees Popinga“ auf und übergibt sie dem behandelnden Arzt. Es handelt sich um einen Stapel leerer Blätter.

Die Handlung von „Der Mann der den Zügen nachsah“

Die Handlung beginnt in Groningen, wo der zentrale Protagonist Kees Popinga als Prokurist in einer Firma arbeitet, an der er auch beteiligt ist. Kurz vor Weihnachten kommt es zu einem betrügerischen Konkurs, der Firmeninhaber setzt sich ab und Kees Popinga ist ruiniert. In den Trümmern seiner bürgerlichen Existenz beschließt er, von nun an nicht mehr nur den „Zügen nachzusehen“, sondern das Leben in vollen Zügen zu genießen. Er geht nicht mehr zurück zu seiner Arbeit, sondern verlässt Groningen und fährt nach Amsterdam, wo er die Geliebte seines Chefs aufsucht, um sie für sich zu gewinnen. Sie lacht ihn aus und er tötet sie. Aus Versehen natürlich, wie er behaupte. Danach flieht er umgehend weiter nach Paris. Auch dort will ihm aber dieses neue, abenteuerliche Leben nicht gelingen. Er kommt in Kontakt mit einer Autoschieberbande, verletzt eine Prostituierte, begeht mehrere kleine und größere Verbrechen und geht schließlich soweit, sich sogar mit Briefen an die Presse zu wenden, deren Berichte über seine Taten ihm nicht gefallen. Gerade durch diese Briefe bringt er die Polizei auf seine Spur und diese können auch die Verbindung nach Groningen und zu dem Mord in Amsterdam herstellen. Den in den Zeitungen veröffentlichten Briefen werden psychologische Analysen beiseitegestellt, was Popinga noch weiter verärgert. Um eine Verhaftung zu umgehen, ändert er jeden Tag seine Routine und seine Aktivitäten, bis ihm kaum mehr Raum zur Handlung bleibt. Gefasst wird er schließlich, weil die Polizei sich mit der Autoschieberbande verständigt und sich so sogar die Pariser Unterwelt an seine Fersen heftet. Als sich das Netz um ihn zusammenzieht, legt er sich auf die Eisenbahnschienen, wird aber gerettet.

Stil und Interpretation des Romans von George Simenon

Wie in den anderen Werken wird vom Autor auch hier eine einfache, klare, jeder literarischen Überhöhung und unnötigen Metaphern entkleidete Sprache verwandt. Trotzdem gelingen eine höchst spannende, sehr dichte Atmosphäre und die psychologisch sehr gelungene Zeichnung eines Kleinbürgers, dessen Welt aus den Fugen gerät, der sich ändern will, dies aber nicht kann und so durch die eigene Begrenztheit und die gänzlich neue Situation langsam der Paranoia und dem Wahnsinn zutreibt. Dabei ist nie klar, ob Popinga eigentlich nie eine Chance hatte und hier ein von Beginn an vergeblicher Kampf gekämpft wird, da es für die meisten unmöglich ist, ihren Träumen nachzugehen, oder, ob er in seinem Fall in immer tieferer Umnachtung tatsächlich eine eigene Art der – scheiternden – Freiheit gewinnt. Der Niedergang dieses „grauen Menschen“, den die Leserschaft sozusagen beobachtend mitverfolgt, hat dabei etwas unheimlich unausweichliches, was der Spannung und der psychologischen Studie aber keinen Abbruch tut.

Verfilmung und späte deutsche Erstausgabe

Der große Erfolg des Romans in den USA führte auch zu dessen Verfilmung durch Harold French im Jahr 1952 unter dem Titel „The Man Who Watched Trains Go By“, der in Deutschland als „Der Mann, der sich selbst nicht kannte“ in die Kinos kam. Erstaunlich ist, dass die erste deutsche Übersetzung dieses bekannten Romans Simenons, der auch in Deutschland eine große Fangemeinde besaß und besitzt, erst 1970 in den Handel kam. Seitdem ist eine ganze Reihe von Ausgaben verschiedener Editionen und Verlage herausgekommen.

Die Ausweitung des Krimi-Genres und Wirkung von Simenons Ausnahmewerk

Ob es sich bei diesem Roman überhaupt um eine Arbeit handelt, die man weitläufig in das Krimi-Genre einsortieren kann, ist fraglich. Zu der Entstehungszeit des Romans geschah dies vielleicht wegen der sich durch den ganzen Band ziehenden Thematik des Verbrechens. Eigentlich handelt es sich aber um eine Charakterstudie, um das Psychogramm eines Menschen, der durch äußere Umstände aus der gewohnten und festgefahrenen Bahn seines Lebens gestoßen wird. Er versucht diese Herausforderung anzunehmen, scheitert aber kläglich. Diese und andere Formen der Verwebung von Verbrechen, Psychologie und mitunter plakativen, mitunter äußerst hellsichtig und fein gearbeiteten Charakteren finden sich in vielen Werken Simenons, auch in den so bekannten und beliebten Maigrets. Dies hatte auch gerade auf deutsche Schriftsteller*innen eine starke Wirkung und nimmt in manchen Fällen, wie bei „Der Mann, der den Zügen nachsah“, sogar Entwicklungen voraus, die sich erst Jahrzehnte später etablieren sollten und das Krimigenre damit nicht nur ausweiteten, sondern der „ernsten“ Literatur auch gleichberechtigt an die Seite stellt.

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