Michel Ruge – das schreibende Original

Fotos by: Jewgeni Roppel

 

Der Bordsteinschreiber

Schriftsteller.de Interview mit Michel Ruge

 

Michel Ruge ist ein Mensch, der mit Schaffensdrang, Interessen und Talent für drei Menschen gesegnet zu sein scheint. Ruge ist Autor, Schauspieler, Türsteher, Personenschützer und Kampfkünstler in einer Person. 1969 wurde er auf St. Pauli geboren. Seine Mutter verdingte sich als Kellnerin in einer Bar, Ruges Vater arbeitete als Zuhälter, machte sich jedoch früh vom Staub. Mit 13 Jahren begann Ruge mit Kampfsport. Einige Jahre später zog er ins benachbarte Karolinenviertel. Der Mann, auf dessen auffallend markantem Gesicht stets und ein verschmitztes Lächeln ruht, arbeitete als Tänzer, betrieb ein Café auf St. Pauli und absolvierte eine Ausbildung zum Schauspieler. Ende der Neunziger ließ Ruge den Hamburger Kiez hinter sich und zog nach Berlin. Dort arbeitete er als Türsteher in einschlägigen Clubs wie dem Cookies und eröffnete zusammen mit dem Künstler Daniel Richter eine Kampfsportschule.

 

Zwischendurch hat er einige Zeit in Los Angeles verbracht. Dort erhielten er und seine Ex-Frau jedoch Morddrohungen von der türkischen Mafia, weshalb er zeitweise untertauchen musste. Ein bewegtes Leben. Und ausreichend Stoff für den ein oder anderen autobiografisch geprägten Roman. 2010 erschien sein erstes Buch Das Ruge-Prinzip: Signale der Gewalt erkennen, Konflikte meistern. 2013 folgte dann Bordsteinkönig. Meine wilde Jugend auf St. Pauli. Das Buch wurde zum Besteller und stand auf der Shortlist für den Hamburger Buchpreis. Nur zwei Jahre später erschien Große Freiheit Mitte. Mein wilder Trip durchs Berliner Nachtleben.

Was als kurzes knackiges Telefoninterview gedacht war, entwickelte sich zum höchst unterhaltsamen, von Anekdoten gespickten und unerwartet gesellschaftskritischen Gespräch, beziehungsweise Monolog.

 

Es scheint, als seist du auch mit 50 Jahren noch unfassbar umtriebig, lebenshungrig und voller Tatendrang …

50 ist überhaupt gar kein Alter. In Amerika beispielsweise starten die Menschen in dem Alter noch eine zweite, dritte oder vierte Karriere. Nach dem Alter wird dort gar nicht gefragt. Mit 50 werden Leute noch Boxweltmeister wie George Foreman. Das Problem ist, dass die Menschen sich selber so alt machen. In Hamburg erlebe ich das ganz krass. Menschen sind hier wie Zinnsoldaten und freuen sich schon mit Mitte 40 auf ihre Rente. Das ist so eine Ameisenmentalität. Die werden schnell ganz unsicher, wenn sie, so wie jetzt in der Pandemie, aus ihrer Routine rausgerissen werden. Gerade bei Hamburgern fällt mir das sehr stark auf.

 

Apropos Hamburger: In deinem Buch Bordsteinkönig. Meine wilde Jugend auf St. Pauli schreibst du über deine Jugend auf St. Pauli. Wie würdest du deine Kindheit und Jugend in wenigen Worten skizzieren?

Ich bin quasi im Hotel aufgewachsen. Genauer gesagt in den Kellerräumen eines Hotels, in dem meine Großmutter damals gearbeitet hat. Ich würde sagen, ich bin wohlbehütet und doch mit der größtmöglichen Freiheit groß geworden. Wir sind in den Straßen, Hinterhöfen und Lokalen rumgestreunert. Der Kiez war wie ein riesengroßer Abenteuerspielplatz. Da wir für die Erwachsenen keine Gefahr darstellten, standen wir unter Welpenschutz. Erst später, als wir unsere Adoleszenz ausgelebt haben, wurde es ein bisschen gewalttätiger und gefährlicher. Wenn du die Jungs auf St. Pauli nicht kanntest, hast du aufs Maul bekommen. Und zwar jeden Tag.

 

Sprache öffnet Tür und Tor, ganz egal wo du bist auf der Welt.

 

Was hast du von deinen Eltern gelernt?

Meine Mutter ist in einem Auffanglager in unglaublich ärmlichen Verhältnissen groß geworden. Bis zu ihrem 16. Lebensjahr hat sie sich noch eine Pritsche mit ihrer Mutter teilen müssen. Und trotzdem hat sie sehr viel Wert darauf gelegt, dass ich die deutsche Sprache vernünftig spreche statt Gangster-Slang. Dafür bin ich ihr bis heute dankbar. Denn Sprache öffnet Tür und Tor, egal wo du bist auf der Welt. Außerdem hat sie Wert auf Tischmanieren gelegt und hat mich immer gut angezogen. Mein Stiefvater, der zu uns kam, als ich drei Jahre alt war, war mutig, gerade und hatte so eine Art Gangsterehre, ein moralisches Gerüst. Meine Mutter hatte einen sehr stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Beides haben sie mir mitgegeben.

 

Glaubst du, dass diese Art moralischer Kompass dich vor einer Karriere im Rotlichtmilieu bewahrt hat?

Ich habe damals immer wieder Angebote von Frauen bekommen, für sie der Macker, also der Zuhälter zu sein. Ich hätte eher Dreck gefressen, als jemals eine Frau auf den Strich zu schicken, weil das mit meinen Moralvorstellungen und meiner Ganovenehre absolut nicht zusammengeht. Mein Stiefvater hat immer gesagt, dass Zuhälter zur untersten Kategorie von Gangstern gehören. Es gibt aber natürlich Ausnahmepersönlichkeiten wie Thomas Born, die ich menschlich total toll finde und mit denen ich befreundet war.

Was für eine Art Mensch war der jugendliche Michel Ruge und wie würdest du dich heute beschreiben?

Meine Mutter hat mich immer als „liebenswerten Chaot“ bezeichnet. Ich denke, dass ich ein scharfer Beobachter und ein melancholischer Träumer war. Heute bin ich ein ruheloser und energischer Mensch.

 

Welche Menschen haben dich damals besonders geprägt?

Vor allem mein Stiefvater. Der war nur 1,72 Meter groß, aber er hatte vor niemandem Respekt und Angst, das hat mich beeindruckt. Und auch ganz viele Menschen, denen ich en passant begegnet bin, haben Eindruck auf mich hinterlassen. Früher gab es auf St. Pauli viele starke Persönlichkeiten, die mich sehr beeindruckt haben, wie beispielsweise Karate Tommy und “Der schöne Claus”. Originale, die es heute gar nicht mehr gibt. Das waren intelligente Freidenker. Der Bockhorn zum Beispiel war ein super Typ oder so Leute wie Norbert Grupe und Wolli Köhler, beides mega Typen. Bockhorn hatte einen alten Käfer mit kaputten Sitzen, den hat er nie abgeschlossen. Der hat den Schlüssel immer stecken lassen und der meinte: „Wer mir den klaut, der hat den auch nötiger und kann ihn gerne haben.“ Mittlerweile ist diese Art von authentischen Menschen leider eher Mangelware.

 

Der soziale Druck ist mittlerweile so hoch, dass die Leute einfach nur noch funktionieren. Da geht jede kreative Kraft und jeder Individualismus kaputt.

 

Woran liegt das Aussterben solcher Originale?

Inzwischen herrscht so ein hoher sozialer Druck, dass Außenseiter oder Menschen, die Ideen haben, um ihr Geld auf andere, ungewöhnliche Art zu verdienen, gar nicht mehr durchkommen. Wir haben Mieten, die mittlerweile unbezahlbar sind für Menschen, die einen ganz normalen Job haben. Wir haben horrende Gewerbemieten, die Alternativen oder spontane, witzige Geschäftsideen gar nicht erst zulassen. Das heißt, die Lebensentwürfe müssen sich dem Druck anpassen. Und der soziale Druck ist mittlerweile so hoch, dass die Leute einfach nur noch funktionieren. Da geht jede kreative Kraft und jeder Individualismus kaputt.

 

Du setzt dich ja stark für die kulturelle Landschaft auf St. Pauli ein.

Ja, und zwar deshalb, weil diese kulturelle Landschaft das Einzige ist, was St. Pauli überhaupt so wertvoll macht. Auch wertvoll für die Touristen. Da beißt sich jedoch die Katze in den Schwanz, denn gerade macht die Stadt den Kiez wertvoll für die Touristen. Irgendwann kommen die Touristen nach St. Pauli und können nur noch sich selbst bestaunen, weil alles Authentische weggentrifiziert wurde. Das, was St. Pauli so wertvoll gemacht hat, ist ja aus einer Gegenbewegung entstanden. Auf St. Pauli haben immer Leute gewohnt, die nicht bürgerlich sein wollten, die keine Lust hatten, sich zu beugen. Das waren Anarchisten. Alkoholiker, Drogensüchtige, Künstler, Leute, die das Bürgertum verachtet haben. So, wie ich es heute auch immer noch tue. Und genau diesen Menschen entzieht man gerade die Lebensgrundlage.

 

Welche Funktion hat Kampfsport für dich?

Ich wurde mein Leben lang immer schon stark mit Gewalt konfrontiert, obwohl die Gewalt nie von mir ausging. Meine Devise lautet: ‘Es ist keine Kunst sich zu prügeln. Die Kunst ist es, zu wissen, wie man das Prügeln beendet.’ Ich habe als Türsteher und Personenschützer gearbeitet und unterrichte Kampfsport. Ich würde also behaupten, dass ich in Sachen Zivilcourage und Selbstverteidigung ein Experte in Deutschland bin. Was ich versuche, den Menschen beizubringen, ist, dass die Ausübung von Gewalt die Minderwertigkeitskomplexe bloß vergrößert. Jede vermiedene Konfrontation ist ein gewonnener Kampf.

 

Auf Wikipedia ist nachzulesen, dass du und deine erste Ehefrau „auf der Todesliste der türkischen Mafia“ standen und dass es dir nach zwölf Monaten gelang, „den Mordauftrag abzuwenden“. Das klingt filmreif …

Ja, das war die tschechische Mafia. Durch einen Bekannten, der damals in diesen Mafiakreisen involviert war, habe ich mitbekommen, dass ein Mordauftrag gegen mich vorlag. Er hat mich zum Glück gewarnt. Zu dieser Zeit habe ich mit meiner damaligen Frau, einer Türkin, die jemandem versprochen worden war, der in diesen Mafiakreisen verkehrte, in Hollywood gewohnt. Zufälligerweise in dem Apartment, in dem Jahre zuvor Charles Manson gewohnt hat. Zum Glück hatte ich Freunde, die mir geholfen haben. Zudem wurde eine Soko gegründet und mir wurde ein Anwalt in den USA an die Seite gestellt. Wir sind dann erst in Südafrika abgetaucht und von dort aus nach Frankreich und schließlich nach München in den Opferschutz gegangen.

 

Was bedeutet Männlichkeit für dich?

Männlichkeit bedeutet für mich Souveränität. Im Sinne von souverän und selbstbestimmt leben und sich nicht dem Diktat der Gesellschaft und dem Materialismus zu unterwerfen. Da gehts einem am Arsch vorbei, was die Leute sagen. Ich bin immer schon Anarchist gewesen. Je älter ich werde, desto überzeugter bin ich von einem Leben ohne Herrschaft. Mich haben stets Menschen beeindruckt, die ihr eigenes Ding durchziehen. Das ist für mich eine emanzipierte Form des Daseins. Das Paradoxe ist, dass es als sehr weiblich gilt, wenn eine Frau so lebt. Einen Mann, der sich haut oder der viel saufen kann, finde ich absolut peinlich und so gar nicht männlich. Und Leute, die glauben, dass sie es geschafft hätten, nur weil sie sich ein kleines Vermögen angespart haben, finde ich einfach nur lächerlich. Das bedeutet, dass sie sich selbst so klein finden, dass sie das durch Äußerlichkeiten kompensieren müssen. Das empfinde ich als total unmännlich und natürlich auch unweiblich. Vielleicht sollten die alle einfach mal Haben oder Sein von Erich Fromm lesen.

 

Gute Idee! Wie hast du denn eigentlich als Heranwachsender die Frauen im Rotlichtmilieu erlebt?

Ich habe diese Frauen als sehr liebende und leidende und insgesamt sehr leidenschaftliche Menschen erlebt. Viele hatten eine Art Mutterkomplex und haben ihren Zuhältern eine große Fürsorge entgegengebracht. Eine Form der Fürsorge, die man eigentlich seinen Kindern zuteilwerden lässt.

 

Diesen Vergleich habe ich zuvor noch nie gehört. Du scheinst ein aufmerksamer Beobachter zu sein. Wie kamst du eigentlich zum Schreiben?

Ich habe früher gerne Reisetagebuch geschrieben und daraus vorgelesen. Die Leute fanden das immer sehr unterhaltsam und lustig. Danach habe ich dann angefangen, auch auf Facebook Beiträge zu posten. Und nachdem ich immer wieder um Tipps in Sachen Gewaltvermeidung gebeten wurde, habe ich einen psychologischen Ratgeber zum Thema Gewalt und Gewaltvermeidung verfasst. Einige Zeit später, Rockergeschichten waren gerade total angesagt, hat mir jemand vorgeschlagen, meine eigenen Rockergeschichten aufzuschreiben. Dafür, den ‘Bordsteinkönig’ selber schreiben zu dürfen, habe ich hart kämpfen müssen. Wenn du aus St. Pauli kommst, denken die Leute automatisch du seist asozial, gewalttätig und kriminell. Ich habe dann sechs Wochen lang Texte geschrieben und eingereicht und meinen Verlag schließlich überzeugen können. Zum Glück hat mir die großartige Hamburger Autorin Wiebke Lorenz damals geraten, für meine Autorenschaft zu kämpfen.

 

Ein Buch wird durch seine Sprache stark. Es geht immer um die Sprache, um die Beobachtung und um die Atmosphäre, die du für den Leser kreierst.

 

Was macht ein gutes Buch aus?

Ein Buch wird durch seine Sprache stark. Es geht immer um die Sprache, um die Beobachtung und um die Atmosphäre, die du für den Leser kreierst. Wenn du dich mit den Ängsten und den Gedanken deiner Figuren identifizieren kannst, dann machst du eine Geschichte greifbar und persönlich. Mein Ziel war es immer, sehr persönlich zu schreiben. Ich habe ja Schauspiel studiert. Meine Sprache kommt eigentlich aus den Theaterstücken. Das ist eine sehr kräftige Sprache. Im Theater wird nichts erklärt, der Text besteht aus Dialogen. Du gehst voll in die Rollen rein. So gehe ich auch beim Schreiben vor.

 

Worin liegt für dich der Reiz des Schreibens?

Ehrlich gesagt verbindet mich eine Hassliebe mit dem Schreiben. Erstens bin ich total faul und dann schwanke ich beim Schreiben ständig zwischen Übermut und Selbstzweifel. In einem Moment empfinde ich es als total genial, was ich geschrieben habe, und im nächsten Moment schäme ich mich für meine Gedanken und frage mich, wer sich überhaupt dafür interessiert.

Hast du eine Art Schreibroutine?

Ich bin kein routinierter Schreiber. Ich kann mich nicht drei oder vier Stunden am Tag hinsetzen und schreiben. Das funktioniert nicht. Ich kann eine Woche lang 12, 14 Stunden schreiben und dann brauche ich zwei Wochen lang eine Pause.

 

Wann bist du am erfülltesten?

Am glücklichsten bin ich immer dann, wenn ich gesehen werde. Kein Autor ist glücklich mit einem genialen Buch, das nicht gelesen wird. Deshalb bin ich ein projektbezogener Arbeiter. Weil du mit Projekten immer etwas erschaffst und nicht nur einen Auftrag erledigst, sondern du erschaffst etwas Neues, das noch nie da gewesen ist und das Menschen begeistern und inspirieren kann.

 

Du bist seit Dezember 2019 mit deiner Frau Annika verheiratet. Auf poemsfromtheblog.jimdo.com veröffentlicht sie regelmäßig Gedichte. Wie passen die Poetin und der Bordsteinkönig zusammen?

Das sind bloß Schablonen, die passen weder auf mich, noch auf meine Frau. Sie ist ja nicht nur Poetin und ich bin auch nicht nur Bordsteinkönig. Sondern sie ist genauso eine Bordsteinkönigin, wie ich Poet bin. Ich lerne sehr viel von ihr und sie lernt viel von mir.

 

Ich habe keine Ziele, die würden mich total eingrenzen.

 

Wovon träumst du?

Dass ich meine Projekte vorantreiben und weiterhin Herzensprojekte realisieren kann. Aber ich habe keine Ziele, die würden mich total eingrenzen.

 

Last but not least: Gibt es ein Buch, das du empfehlen kannst?

Die Autobiografie Ich bin so wie ich bin von Klaus Kinski. Das Buch hat mich wirklich inspiriert. Es hat so eine Kraft. Kinski hatte etwas unfassbar Wildes und Anarchisches. Trotzdem war er voller Liebe. Er sagt von sich, dass er alles gefickt hat – groß, klein, dick, dünn, alt, jung und so weiter. Und irgendwann hat er entdeckt, dass jede Frau schön ist. Dabei geht es nicht um die oberflächliche Schönheit, sondern darum, dass, wenn du eine Frau in einem bestimmten Moment triffst und berührst, die ganze Schönheit rauskommt.

 

Interview: Lesley Sevriens

Fotos: Jewgeni Roppel 

 

 

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