Ein literarischer Nerd: Florian Valerius

 

Im Japanischen gibt es das schöne Wort ‘Ikigai’, das so viel wie ‘Lebenssinn’ bedeutet. Im besten Fall schenkt einem der eigene Beruf Lebenssinn und wird somit zur Berufung. So wie bei Florian Valerius. Florian, auf Instagram besser bekannt als „Literarischer Nerd“, hat sein Hobby zum Beruf gemacht: Der gelernte Buchhändler postet smarte und unterhaltsame Buchrezensionen und arbeitet als Filialleiter in der Universitätsbuchhandlung Stephanus in Trier. Bücher sind sein Leben. Wir haben mit ihm über seine Liebe zu Alice im Wunderland, die Inspirationsquelle Instagram und Servierwagen voller Bücher gesprochen. Außerdem haben wir darüber spekuliert, warum es vor allem Frauen sind, die Bücher kaufen und lesen.

 

 

Meine Berufung – Literatur

 

Florian, wie bist du auf das Buch gekommen, magst du deinen Werdegang skizzieren?

Ich bin erst sehr spät zum Lesen gekommen. Das erzähle ich auch gerne meinen Kunden und Kundinnen, die Angst haben, weil ihre Söhne nicht lesen. Mir fehlt der komplette Kinder- und Jugendliteratur-Kanon, weil ich als Kind nie gelesen habe. Ich war der Erste in meiner Familie, der Abitur gemacht hat, bei uns zu Hause gab es eigentlich keine Bücher. In jungen Jahren habe ich viele Comics gelesen und habe dann im Alter von 16, 17 mit Stephen King angefangen. Das war meine Einstiegsliteratur. Nach dem Abitur habe ich erst Zivildienst gemacht, dann Pädagogik und Soziologie Studiert, habe jedoch schnell gemerkt, dass das zu trocken für mich ist. Und dann habe ich zufällig in der Uni-Filiale, in der ich jetzt noch arbeite, den Aushang entdeckt, auf dem ein Auszubildender gesucht wurde. Daraufhin habe ich mich beworben und zwei Wochen später mit meiner Ausbildung angefangen.

 

Wow, dann bist du seitdem dort tätig?

Ja, seit 2005. Seit drei Jahren bin ich Filialleiter. Das Schöne an der Buchhandlung ist, dass sie einerseits eine Uni- und zugleich eine Stadtteilbuchhandlung ist. Mir kommt sie manchmal vor, wie eine Dorfbuchhandlung, denn ich kenne meine Kunden und Kundinnen teilweise schon seit 15 Jahren, was unfassbar schön ist. Sie kennen meinen Geschmack, ich kenne ihren Geschmack. Wenn jemand zur Tür reinkommt, kann ich oft sagen: „Das Buch ist was für Sie, nehmen Sie das mal mit.“

 

Mir bereitet es große Freude, ein gutes Buch gelesen zu haben und meine Leidenschaft dann auf die Menschen zu übertragen.

 

Was schätzt du am meisten an deiner Arbeit?

Mir bereitet es am meisten Freude, ein gutes Buch gelesen zu haben und meine Leidenschaft dann auf die Menschen zu übertragen. Es gibt nichts Schöneres, als wenn ich am Wochenende ein Buch gelesen habe, das mich begeistert hat und wenn ich dann montags in der Buchhandlung einem Kunden das Buch direkt in die Hand drücken kann. Der Austausch und der direkte Dialog mit meinen Kunden und meinen Instagram-Followern erfüllt mich sehr.

 

Du schreibst ab und an auch Rezensionen für das Literaturblog Bücherkaffee.

Das Bücherkaffee ist ein Blog, das Alex, eine Freundin von mir, betreibt und das von verschiedenen Rezensenten lebt. Wenn ich mal mehr Zeichen benötige, als auf Instagram möglich sind, dann verfasse ich dort auch mal einen längeren Text. Zum Beispiel darüber, wie ich zum Lesen gekommen bin.

 

Du hast vor vier Jahren Instagram für dich entdeckt und den Account „Literarischer Nerd“ ins Leben gerufen. Inzwischen folgen dir über 20.000 Menschen. Wie wird man „Bookfluencer“?

Das werde ich oft gefragt. Wenn ich dafür das Geheimrezept hätte, würde ich sehr reich werden. Ich war einfach oft zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Ich wurde von dem Radiosender „1Live“ interviewt, war in der „Landesschau“ zu sehen und habe den ersten „Buchblog-Award“ gewonnen. Das waren alles Ereignisse, die streuen. Aber es war und ist natürlich auch harte Arbeit. Instagram ist mittlerweile eine Art Zweitjob neben meiner Arbeit. Zudem hat mir auch geholfen, dass ich Buchhändler bin. Ich glaube, das wertschätzen die Menschen. Was mir ebenfalls geholfen hat, ist, dass ich ein Mann bin, weil es in dieser Community nicht so viele Männer gibt, die über Bücher sprechen. Da fällt es natürlich leichter, herauszustechen.

 

Ich würde sagen, es sind 80 % Frauen, die Bücher kaufen.

 

Stimmt, es ist tatsächlich ein Phänomen, dass wesentlich mehr Frauen lesen und Bücher kaufen, als Männer …

Ja, das erlebe ich auch täglich in der Buchhandlung. Ich würde sagen, es sind 80 % Frauen, die Bücher kaufen.

 

Hast du eine Ahnung, woran das liegen könnte?

Das ist eine gute Frage. Die genaue Antwort kenne ich nicht. Aber ich muss auch ehrlich sagen, dass es mir, obwohl ich ein Mann bin, leichter fällt, Bücher für Frauen zu empfehlen. Es ist tatsächlich auch ein wahrgewordenes Klischee: Wenn Männer in die Buchhandlung kommen, greifen sie eher zum Sachbuch und weniger zur Belletristik. Während man sich bei weiblicher Kundschaft austoben kann, sind Männer meist sehr festgefahren. Es ist eine schwierige aber auch sehr anspruchsvolle Aufgabe, Männer zu beraten.

 

Es ist irgendwie auch verrückt, dass Menschen, die so virtuell unterwegs sind, das gedruckte Buch trotzdem noch wertschätzen.

 

Ich möchte noch mal kurz auf Instagram zu sprechen kommen. Wie passen die digitale Welt von Instagram und die analoge Welt der Bücher eigentlich zusammen? Instagram ist ja sehr visuell geprägt und schnelllebig, während das Lesen (oder Hören) von Büchern relativ viel Zeit erfordert.

Ich glaube, da ist unter anderem der Spaß am Kreieren ausdrucksstarker Bilder – ich finde es toll, dass das gedruckte Buch in diesem virtuellen Medium so in den Fokus gerückt wird. Es ist ja irgendwie auch verrückt, dass Menschen, die so virtuell unterwegs sind, das gedruckte Buch trotzdem noch wertschätzen und feiern. Bei Instagram muss man sich auf wenige Textzeilen beschränken – für mich ist die vorgegebene Caption-Länge perfekt. In der Buchhandlung habe ich schließlich auch keine zwei Stunden Zeit, jemanden von einem Buch zu überzeugen. Das muss in vier, fünf knappen Sätzen geschehen. Ich glaube, dass man diese kurzen Texte relativ schnell konsumieren kann, man aber dennoch viel Input reinbringen kann.

 

Ticken deine Follower anders als deine Kund*innen in der Buchhandlung?

Von meinen Followern sind, ganz ähnlich wie in der Buchhandlung, 85 % weiblich. 70 bis 80 % meiner Follower sind zwischen 35 und 65 Jahre alt.

 

Ach echt? Das hätte ich gar nicht gedacht.

Ja, es gibt es viele „ältere Damen“, die mir folgen, natürlich sind auch jüngere dabei. Das deckt sich beinahe eins zu eins mit den Kunden meiner Buchhandlung. Neben Belletristik stelle ich zwischendurch auch immer wieder mal ein Kinderbuch, einen Krimi oder ein Sachbuch vor und versuche weitestgehend das Spektrum der Buchhandlung abzudecken. Ich mache quasi da virtuell weiter, wo ich aufhöre, wenn ich abends die Buchhandlung schließe.

 

Wie sieht ein typischer Tag in deinem Leben aus?

Der fängt damit, dass ich morgens beim Kaffee erst mal Instagram checke, Kommentare und Fragen beantworten und so weiter. Dann arbeite ich. In der Mittagspause ist meistens wieder Instagram angesagt und nach Feierabend widme ich mich noch mal Instagram und mache meistens auch dann einen Post. Ich habe keinen festen Redaktionsplan oder so, meine Posts entstehen in der Regel relativ spontan.

 

Instagram ist für mich auch eine absolute Inspiration. Als Buchhändler dachte ich immer, ich kenne so gut wie alles …

 

Das klingt nach einem sehr ausgefüllten Tag.

Das stimmt. Aber Instagram ist für mich auch eine absolute Inspiration. Als Buchhändler dachte ich immer, ich kenne so gut wie alles. Aber Instagram fördert immer wieder Sachen zutage, die ich nicht kenne. Seitdem kaufe ich mir natürlich doppelt so viele Bücher (lacht).

 

Erinnerst du dich noch das allererste Buch, das dich nachhaltig beeindruckt hat?

Das ist mir ein bisschen peinlich aber das war „Die Feuer von Troja“ von Marion Zimmer Bradley. Ein tausendseitiger Wälzer und eine feministische Sichtweise auf die Geschichte der antiken Kassandra. Das Buch habe ich so dermaßen verschlungen. Es hat mich so froh gemacht, dass ich danach regelmäßig in Buchhandlungen gegangen bin und Bücher gekauft habe.

 

In guten Urlauben – mit zwölf Tagen Strand – schaffe ich 14 Bücher.

 

Wie viele Bücher liest du im Schnitt pro Woche?

Das ist ganz verschieden. Es gibt Phasen, da schaffe ich drei Bücher in der Woche und Phasen, da lese ich drei Wochen gar keines. Je nachdem wie anstrengend es gerade auf der Arbeit ist. Die vergangenen Corona-Monate waren extrem anstrengend und fordernd, weshalb ich relativ wenig gelesen habe. Aber jetzt gerade habe ich wieder einen Lauf: In den letzten vier Tagen habe ich vier Bücher gelesen. In guten Urlauben – mit zwölf Tagen Strand – schaffe ich 14 Bücher. Da ist dann aber nur Strand und Entspannung angesagt.

 

Bist du eigentlich auch ein Freund von Hörbüchern?

Nee. Auf einer langen Zugfahrt mal vielleicht. Oftmals gefallen mir die Stimmen auch einfach nicht, außerdem werde ich nervös, wenn ich einfach nur zuhöre. Ich muss immer was mit meinen Händen machen.

 

Welche Bücher liegen aktuell auf deinem Nachttisch?

Ich habe gerade „Normale Menschen“, das neue Buch von Sally Rooney, zu Ende gelesen. Das fand ich großartig. Jetzt liegt hier „Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens“ von Tom Barbash. Beide erscheinen im Laufe des Monats August. Daraus habe ich heute 150 Seiten am Stück „weggesuchtet“. Und dann liegen da „Das lügenhafte Leben der Erwachsenen“, das neue Buch von Elena Ferrante, das ebenfalls Ende des Monats erscheint sowie „Weit weg von Verona“ von Jane Gardam. Darauf freue ich mich auch schon sehr.

 

Dann hast du dort ja noch reichlich Lesestoff liegen …

Ja, ich habe mir gerade vier Servierwagen bei Ikea gekauft. Die stehen nun in der ganzen Wohnung verteilt und sind gefüllt mit Büchern, die ich noch nicht gelesen habe. Das sind die ganzen neuen Leseexemplare für den Herbst. Ich kann mich oft nicht entscheiden, mit welchem ich anfange, weil ich denke, ich tue einem Autoren oder einer Autorin unrecht, wenn ich einem Bestimmten beginne. Manchmal mache ich dann stattdessen einfach Netflix an.

 

Um die Qual der Wahl zu umgehen?

Ja, genau. Das sind die First World Problems eines Buchhändlers.

 

Wie viele Bücher befinden sich schätzungsweise in deinem Bücherregal?

Ich habe schon so oft versucht, sie zu zählen und sind dann doch jedes Mal gescheitert. Wir haben riesige, bestimmt fünf oder sechs Meter hohe Regale, die voll sind mit Büchern. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wie viele es sind und komplett den Überblick verloren.

 

Ich besitze ungefähr 60 verschiedene Alice im Wunderland-Ausgaben – ich bin der absolute Alice-Freak.
 

 

Hast du denn ein bestimmtes Ordnungssystem?

Jein. Es gibt ein Seitenregal, darin befinden sich Kinderbücher, Sachbücher, Biografien, Graphic Novels und ein Regal mit meiner Alice im Wunderland-Sammlung. Ich besitze ungefähr 60 verschiedene Alice-Ausgaben, in verschiedenen Sprachen und aus verschiedenen Ländern – ich bin der totale Alice-Freak. Alice ist eines meiner absoluten Lieblingsbücher. Im großen Regal befindet sich nur Belletristik. Und dann gibt es verschiedene Regale, in denen nur Lieblingsbücher stehen. Der Rest ist wild gemischt.

 

Wenn du nur noch eines von beiden dürftest, Schreiben oder Lesen – wofür würdest du dich entscheiden?

Lesen. Ich liebe es zwar, über Bücher zu schreiben. Aber ohne Lesestoff könnte ich ja dann auch nicht mehr schreiben.

 

 

Alle meine Bücher sehen ungelogen so aus, als wären sie ungelesen. Wenn ich ein Taschenbuch lese, dann lege ich meine Hand schützend auf den Buchrücken.

 

Gehörst du zu denen, die Bücher verleihen oder zu denen, die niemals ein Buch aus der Hand geben?

Ungerne. Aber ich liebe es, Bücher zu verschenken. Ich möchte, dass die Menschen, diese Bücher selbst besitzen. Alle meine Bücher sehen ungelogen so aus, als wären sie ungelesen. Wenn ich ein Taschenbuch lese, dann lege ich meine Hand schützend auf den Buchrücken. Ich schreibe auch nicht in Bücher und mache keine Knicke hinein. Ich bin da ganz penibel. Stattdessen fotografiere ich wichtige Passagen ab oder mache Post-its hinein.

 

Wenn du nur noch drei Bücher besitzen dürftest, welche wären das und warum?

Oh, das ist gemein. Darf ich auch vier nennen?

 

Ausnahmsweise.

Ok, das wäre eine ganz klassische Alice im Wunderland-Ausgabe. Am besten in der Enzensberger-Übersetzung und mit den Illustrationen von John Tenniel, das ist die Original-Illustration. Dann Die Arbeit der Nacht von Thomas Glavinic, Vielen Dank für das Leben von Sibylle Berg und Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki von Haruki Murakami.

Interview: Lesley Sevriens

Fotos: Florian Valerius

 

PS: Anmerkung von Mandus:  “Die Arbeit der Nacht” hat mich ebenso tief beeindruckt! Was für ein Stimmungsaufbau, geht unter die Haut… 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert