Mrs. Dalloway

War selbst eine Schönheit – Virginia Woolf

Der 1925 im eigenen Verlag Hogarth Press publizierte Roman Mrs. Dalloway ist der insgesamt vierte von Virginia Woolf und heute wohl ihr bekanntester. Fast jeder kennt wohl den Titel und in den meisten englischsprachigen Ländern gehört die Lektüre von Mrs. Dalloway zum Kanon der im Schulunterricht zu besprechenden Romanen. Dabei waren Woolfs Romane zu ihrer eigenen Zeit eher ein bescheidener Erfolg zu eigen und ihr Werk geriet nach ihrem frühen Tod 1941 sogar ein wenig in Vergessenheit, zumindest was das breitere Publikum angeht. Heute gilt Mrs. Dalloway neben George Eliots Middlemarch sogar als eines der bedeutendsten Bücher in englischer Sprache überhaupt. Wen das jetzt abschrecken sollte: Ruhe bewahren, Tee trinken und weiterlesen. Das Buch ist ein echtes Kleinod.

Mrs. Dalloway geht einkaufen für eine Dinnerparty – Handlungsablauf des Romans von Virginia Woolf

Der Roman spielt an einem Junimittwoch in London im Jahr 1923 und behandelt die – eher sparsamen – Handlungen und die – deutlich ausufernden – Gedanken eines kleinen Personenkreises, allen voran die der 52 jährigen Mrs. Clarissa Dalloway. Der Fokus liegt dabei ganz auf dem Innenleben der Figuren und wird nur von spärlichen Beschreibungen der Umgebung begleitet, die obendrein meist als Vehikel für neue Assoziationsketten und Erinnerungen dienen. Zu Beginn steht der sich über zehn Seiten erstreckende Spaziergang der sehr wohlhabenden Dame Mrs. Dalloway durch die Bond Street in Westminster. Sie will Blumen für die Abendgesellschaft kaufen, die sie geben wird und muss dabei unaufhörlich über das Altern und den Tod nachdenken. Ein Ausblick und eine Einstimmung auf die wichtigste Nebenhandlung des Romans, den Selbstmord des jungen, von Wahnvorstellungen geplagten Erste-Weltkriegs-Veteranen Septimus Smith, von dem Mrs. Dalloway am Ende des Buches während ihrer Party erfährt. Neben diesem tragischen Tod geschieht nur alltägliches: das Stopfen eines Abendkleides, das Verfassen eines Leserbriefes, die Fahrt im Oberdeck eines Busses, die Rückkehr eines Freundes von Mrs. Dalloway aus dem Kolonialdienst. In den Gedanken der Personen, in diesem von Virginia Woolf kunstvoll gestalteten Bewusstseinsstrom, der durch innere und äußere Einflüsse und Eindrücke hierhin und dorthin geschwemmt wird, passiert das Eigentliche dieses Romans, die sensible, facettenreiche Personenzeichnung, die Auseinandersetzung mit sich selbst, der Zukunft, der Vergangenheit und immer wieder der Frage nach der Richtigkeit einmal getroffener Entscheidungen. Dabei gelingt es Virginia Woolf parallel zu der weitgehend ja banalen Handlung vielfältige, teilweise für die Zeit geradezu schockierend progressive Motive und Themen anzusprechen.

Themen und Motive in Virginia Woolfs Roman Mrs. Dalloway

Natürlich kann hier nur die Oberfläche angekratzt werden – immerhin existiert zu diesem einem Buch eine veritable, interdisziplinäre Bibliothek an wissenschaftlicher und populärer Sekundärliteratur, die sich beileibe nicht allein auf die offensichtlichen Themen und Motive oder auf Stil und Schreibtechnik konzentrieren. Neben der schon angesprochenen Beschäftigung mit Alter und Tod, der dann auch im Selbstmord des jungen Septimus Smith Handlung wird, werden auch Motive wie lesbische und eheliche Liebe, Karriere (und Scheitern), die Emanzipation der Frau, Wohlstand und Armut sowie das Leben im Empire, in dessen Herz wie an dessen Rand, angesprochen. So entsteht nach und nach ein aus dem Innenleben der Personen entstehendes Kaleidoskop der britischen Gesellschaft nach den Umbrüchen und Verwüstungen des 1. Weltkriegs. Ein ganz zentrales Thema ist dabei die Auseinandersetzung mit Entscheidungen, die das Leben prägen und – wenn auch nicht selten durchaus mit Bedauern – nicht mehr zu ändern sind, trotzdem immer die Frage aufwerfen: was wäre, wenn? Hier ist der Roman universal und berührt ein Feld, das immer Aktualität hat. Insgesamt bietet Mrs. Dalloway aber auch einen durchaus faszinierenden Einblick in die sich im Wandel befindende britische Gesellschaft zu dieser Zeit. Interessant ist dabei, dass Woolf, selber aus einer eher wohlhabenden Familie stammend, ganz verschiedene Schichten zur Sprache kommen lässt.

Wer ist Mrs. Dalloway? – Das Vorbild für die Protagonistin von Virginia Woolfs berühmtem Roman

Mrs. Dalloway ist nicht irgendwer. Das sie sehr wohlhabend ist, wird dem kundigen Leser schon durch das Einkaufen auf der Bond Street, bis heute eine der teuersten Einkaufsstraßen Londons und der wahrscheinlich der Welt, auffallen. Das dann später, am Abend, einer der Gäste ihrer Abendgesellschaft dann auch noch der Premierminister ist, unterstreicht noch einmal deutlich die gesellschaftliche Stellung der Protagonistin, die eindeutig zur englischen Oberschicht gezählt werden muss. Als Vorbild für Clarissa Dalloway diente wohl – so die heutige Einschätzung durch Literaturwissenschaftler – die Aristokratin und Kunstmäzenin Ottoline Morell, die sich dem Bloomsbury Kreis anschloss und später auch Donnerstags in ihrem Haus am noblen Bedford Square einen Salon betrieb. Zu diesen Abendgesellschaften waren neben den intellektuellen und Künstlern des Bloomsbury Kreises auch Prominente und Politiker wie z.B. Winston Churchill geladen. Inwieweit die Ähnlichkeiten noch weiter reichen ist aus heutiger Sicht schwer zu ermessen, sicher ist allerdings, dass sich die beiden Frauen, Virginia Woolf und Ottoline Morell, schon 1909 kennen lernten und also recht lange und gut kannten.

Bewusstseinsstrom – ein einflussreiches schriftstellerisches Experiment

Der natürlich herausragende stilistische und formale Aspekt des „experimentellen“ Romans Mrs. Dalloway ist die Verlagerung in die Psychologie der Figuren, die in gewisser Weise die Handlung, zuvor das zusammenhaltende Gerüst einer epischen Erzählung, fast komplett ersetzt. Gemeinsam mit Ulysses von James Joyce ist Mrs. Dalloway der erste Roman, der diesen Schritt derart radikal geht und gehört auch deswegen zu den einflussreichsten Romanen des 20. Jahrhunderts. Erprobt hatte Woolf die Technik des „Stream of Consciousness“ schon in ihrem vorhergehenden Roman Jacob´s Zimmer, bringt sie hier aber zu einem Höhepunkt und zu einem den gesamten Text prägenden Stilmittel. Der Einfluss dieser im deutschen als Bewusstseinsstrom bezeichnenden Erzähltechnik auf den modernen und zeitgenössischen Roman kann gar nicht überschätzt werden und findet sich inzwischen in so gut wie allen Genres wieder, wird aber häufig dosiert und nicht in der gleichen Radikalität eingesetzt, wie man dies bei James Joyce und Virginia Woolf findet.

Lesen? – Keine Angst vor Virginia Woolf!

Natürlich sollte, ja muss jeder, der Literatur liebt und sich für Literatur interessiert, diesen Roman von Virginia Woolf lesen. Am besten natürlich im Original, eine frische Übersetzung tut es aber allemal auch. Lassen wir die – früher – kontroversen Inhalte beiseite, bleibt ein Buch, das mit einem ganz eigenen Stil an zentrale Aspekte des Menschseins rührt und in weiten Teilen nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Wie bei so vielen großen Werken der Literaturgeschichte darf man sich von all dem Brimborium, das um die Bücher gemacht wird und von all den gelehrten Überfrachtungen nicht davon abbringen lassen, diese Bücher einfach in die Hand zu nehmen und zu lesen.

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