Schon die schiere epische Breite des Buches, die haptische zu aller erst und nicht die erzählerische, die dann allerdings auch imposant ist, kann einschüchternd wirken. Mit über 1100 Seiten ist dieser posthum veröffentlichte, nicht abgeschlossene, wunderbare Roman mit seinen drei lose miteinander verbundenen Teilen dicker als ein handelsüblicher Pflasterstein und damit ein echtes Stück Arbeit, wenn man sich daran macht, ihn durchzulesen. Wir leben ja in Zeiten, in denen Menschen gerne ein „Projekt“ haben. Dieses Buch von vorne bis hinten durchzulesen ist ein durchaus lohnenswertes Projekt, auch wenn das nicht schnell geht, denn es ist kein Buch, das man so en passant weg liest. Mal lustig, mal hart und schmerzvoll, insbesondere wenn im mittleren 2. Buch, „Der Teil von den Verbrechern“, auf über dreihundert Seiten brutale Morde an Frauen beschrieben werden, für die die bis heute anhaltende Mordserie an hauptsächlich armen Arbeiterinnen und jungen Mädchen in Ciudad de Juarez Pate standen. Dann kommt es wieder zu mal absurden Szenen. Die schiere Fülle von Themen, Leben, Ansichten und Ideen, die da angeschnitten und verhandelt werden, ist wirklich erstaunlich.
Posthumer Ruhm für Roberto Bolaño und die Edition von 2666
Das dieses Werk heute in seiner unvollendeten Gesamtheit als nur ein Buch vorliegt, ist den Kindern und der Frau Roberto Bolaños zu verdanken. Dieser hatte eigentlich testamentarisch verfügt, den Gesamttext von 2666 in seine drei recht offensichtlichen Teile – die Literaturwissenschaftler und die Suche nach Archimboldi, die Frauenmorde in Santa Theresa sowie den abschließenden Einblick in das Leben Archimboldis, das auf Rügen beginnt und durch die Grauen der Ostfront bis ins hohe Alter des Autors führt, bevor sich dessen Geschichte in eben jenem Santa Theresa verliert – zu zerlegen und als drei separate Romane zu veröffentlichen. Hinter dieser Verfügung stand allerdings keine künstlerischen, sondern rein ökonomische Überlegungen. Mit drei posthum zu veröffentlichenden Romanen hoffte Bolaño, seine Kinder besser finanziell absichern zu können. Am Ende entschieden sich die Erbberechtigten aber dafür, das Manuskript nicht auseinanderzureißen, sondern ungeteilt zu veröffentlichen. Die Kritik hat ihnen zumindest in literarischer Hinsicht Recht gegeben, heimste 2666 doch nicht nur einige wichtige Literaturpreise ein, sondern machte Bolaño auch endlich international bekannt.
Die drei Bücher von 2666
Die Literaturwissenschaftler
Die grobe Handlung selber, bei der die fiktive Stadt Santa Theresa, die als eine wenn auch lose Chiffre für das reale Ciudad de Juarez gelesen werden kann, die drei ansonsten nur lose zusammenhängenden Teile des Romans zusammenhält, ist schnell erzählt. Im ersten, in drei Teile gegliederten Abschnitt begeben sich vier von dem reichlich obskuren deutschen Autor Archimboldi besessene Literaturwissenschaftler auf die Suche nach diesem Phantom, von dem es immer mal wieder heißt, er würde als Kandidat für den nächsten Literaturnobelpreis gehandelt. Archimboldi bleibt aber ein Phantom und am Ende vermuten die vier diesen in Santa Theresa, wo sie ihn suchen aber nicht finden können.
Die Frauenmorde – „Der Teil von den Verbrechern“
Die Frauenmorde in Santa Theresa (reales Vorbild ist Ciudad de Juarez) sind Thema des zweiten Teils und dieser ist vielleicht der schwierigste. Auch wenn die Beschreibung der hilflosen, lustlosen oder unfähigen Polizeileute ihre amüsanten Seiten hat, sind die klinischen Beschreibungen von noch und noch Morden an jungen Frauen, die sich mit dem Wissen um die reale Vorlage wie eine einzige lange Anklage gegen das Versagen des Staates, der Polizei, der Männer und Menschen liest, ein literarisch großartig konstruierter Horrortrip.
Archimboldi
Der dritte und letzte Teil wiederum erzählt episodisch das Leben Archimboldis, von seiner Jugend in Rügen durch den zweiten Weltkrieg bis hin zu seiner Reise nach Santa Theresa, wo sein Sohn, von dem er erst kürzlich erfahren hat, im Gefängnis sitzt, weil man ihn, den „Gringo“, als Drahtzieher hinter den Frauenmorden vermutet. Auch wenn nie klar wird, inwieweit der „Gringo“ in die Morde verwickelt ist, wird doch offensichtlich, dass es hauptsächlich darum geht, einen Schuldigen zu präsentieren. Das die Morde danach unverändert weitergehen, wird von der Polizei natürlich geflissentlich ignoriert.
Bolaños 2666: Ein großer, unvollendeter Roman mit Ecken und Kanten
2666 ist ein unvollendetes Meisterwerk und hat zu Recht eine so große internationale Aufmerksamkeit erregt. Heute, über zehn Jahre nach dem Tod des Autors, muss Bolaño, der zeitlebens ein Außenseiter des Literaturbetriebes gewesen ist, zudem zu den einflussreichsten lateinamerikanischen Literaturschaffenden seiner Generation gezählt werden. Nun muss man sich aber auch klar machen, dass 2666 wirklich Arbeit ist und das man für das Lesen dieses epischen Werks leicht mehrere Monate braucht. Was an dem Roman fasziniert, ist die feine Ironie, die häufig ebenso liebenswerten wie skurrilen Figuren und die großartige, bildgewaltige Erzählkunst dieses Autors, seine Selbstbeschränkung und Maßlosigkeit (ja, das existiert in diesem Buch nebeneinander) sowie die offene Form und die Konstruktion des Romans. Es sind tatsächlich drei Bücher in einem, die lose über Santa Theresa, die Frauenmorde und die Figur des Schriftstellers Archimboldi verbunden sind. Ein Muss für alle echten Literaturfans, die keine Angst vor wirklich dicken und nicht immer einfach zu lesenden Büchern haben. Zudem gilt das Buch jetzt schon als Klassiker und bietet einen grandiosen Einblick in lateinamerikanische Literatur jenseits von Isabel Allende und Gabriel Garcia Marquez.