„Lassen Sie mich in Ruhe mit diesem Tagedieb und Taugenichts. Wuttke. Jaja. Großes Maul und nichts als Schulden. War der sogar noch stolz drauf. Von wegen kleiner Mann und so, nee, nee, mit dem Wuttke, da stimmte was nicht, das können Sie mir glauben!“
„Wuttke, den haben hier alle gemocht. Ist ja jeden Tag hier aufgeschlagen, immer so gegen neun, und hat seine Halben gebechert. Wenn er mal Geld in der Tasche hatte, gabs dann auch Lokalrunden. Das sehen Sie hier ja nicht so oft, wissen Sie. Die meisten die herkommen, haben ja nichts. Gerade mal genug für ein zwei Bier am Abend. Na, bei den Preisen, 1,30 für ein kleines, aber der Wuttke in seinem Blaumann, wieso hat der den eigentlich getragen, frag ich mich, aber der hat sich nie lumpen lassen. Gut, wenn er blank war, hat er anschreiben lassen und dann, manchmal, hat er hier so Sachen angeschleppt, meistens wüstes Gekritzel, also nich‘ mein Fall. Habe ‘nen ganzen Karton mit seinen Sachen irgendwo rumliegen. Von uns wusste ja keiner, dass der Wuttke so bekannt war. Das kriegt unsereins ja nich‘ so mit. Jetzt habe ich gelesen: Retrospektive da und da in diesem Museum. Mal ganz im Vertrauen, ja, glauben Sie, das Zeugs, das ich hier liegen habe, ist irgendwas wert?“
„Setzen Sie sich doch bitte. Der Wuttke ist immer einer meiner Problemkünstler gewesen. Dabei so begabt. Er hat immer den Nerv getroffen. Aber die Verkäufe, na, das war nicht so einfach. Als Galerist, Sie verstehen das sicher, ist man ja auf Arbeiten angewiesen, die man auch verkaufen kann. Bei Wuttke war das mehr so ein Spiel. Geld wollte der eigentlich nicht. Hat alle angepumpt, ich glaube, er schuldet mir so um die zwanzigtausend. Ja da gucken Sie. Wuttke, der Heilige vom Wedding, Schulden. Das passt nicht. Aber von irgendwas leben müssen wir ja alle, nicht wahr? Ich habe die Arbeit mit Wuttke immer als Investition begriffen. Einer, der aneckt und Reaktionen hervorruft, solche Reaktionen, dass die Zeitungen drüber schreiben, dass Sie Drohbriefe bekommen, Glückwunschschreiben, dass Anwälte eingeschaltet werden, so einer ist heute selten – und eigentlich unbezahlbar. Ich halte es da mit Oscar Wilde. Nur keine Publicity ist schlechte Publicity. So war Wuttke gleichzeitig mein defizitärster und wichtigster Künstler im Portfolio. Man denke nur an die Installation Sternburg. Da wo er die Galerie vollgestellt hat mit seinem Bierkonsum von einer Woche, keine Ahnung übrigens, ob er das wirklich alles getrunken hat, es erscheint mir fast unmöglich, und mittendrin, in der „Bierburg“, dieser Obdachlose, den er irgendwo aufgetrieben hatte und der da die ganze Ausstellung über geblieben ist. Hat während der Vernissage in die Ecke gepinkelt. Vor allen Leuten. Schreie des Entsetzens. Na ja, das war wohl wirklich Wuttkes Stärke, dieses Direkte, das einen angeht und angreift. Ich habe mir hinterher einiges anhören müssen. Von wegen, man hätte diesen armen Mann, den Clochard, hier wie ein Tier gehalten. Der wiederum war ganz zufrieden. Ich glaube, so gut ging dem das seit Langem nicht.“
„Man hat ja gar nicht gewusst, das Wuttke einmal verheiratet war und eine Tochter hatte. Eigentlich weiß man ja bis heute kaum was über den Mann. Jetzt ist er weg. Einfach so. Hat sich in Luft aufgelöst, könnte man sagen. Und wir bleiben zurück, die wir vielleicht so etwas wie seine Freunde gewesen sind und merken: Wir haben den Wuttke gar nicht gekannt. So etwas fällt einem ja immer erst hinterher auf. In gewisser Weise haben wir ihn bewundert, denke ich. Er war so was wie ein heiliger Trinker, verstehen Sie? Also ich meine, der hat immer alle geliebt, aus der Ferne, alle Menschen, glaube ich, hat in Ihnen irgendwas gesehen, was liebenswert ist, besonders in denen, die ganz unten sind, am Ende, verloren, wenn Sie so möchten. In seiner Wohnung haben ja mitunter die wildesten Gestalten gehaust, Verbrecher, Huren, Obdachlose, die er von der Straße aufgesammelt hat. Er selbst war ja doch immer nur in seinem Atelier. Da hat er uns nie reingelassen. Ein richtiges Geheimnis hat der draus gemacht. Aber fragen Sie hier in der Gegend mal rum, fragen Sie, wen sie wollen, die Wirte, die Trinker, die Huren, die arbeitslosen Jugendlichen, da Pankstraße, die da rumhängen und bei denen man immer denkt, na die verkaufen doch, fragen Sie, wen sie wollen. Den Wuttke haben alle gemocht.“
„Ich spreche nicht mit Ihnen über meinen Exmann. Entschuldigen Sie. Alles was Sie je von mir über ihn hören werden, ist, dass er ein riesengroßes Arschloch ist. Und jetzt hauen Sie ab.“
„Wuttke? Aber ich bitte Sie. Ein ganz Großer. Erstaunlich, nicht nur diese, ja, Authentizität und dieses Autarke, was er ausstrahlt oder ausgestrahlt hat, sollte ich vielleicht besser sagen, nein, auch dieser Werdegang. Arbeiterkind. Vater schafft bei irgend so einer kleinen Klitsche, Alkoholiker, Mutter Friseuse, meistens arbeitslos. So einer wird fast nie Künstler, obwohl doch da gerade die wirklichen Geschichten stecken, das Echte. Finden Sie nicht? Wir sind unglaublich glücklich, jetzt, ein Jahr nach seinem Verschwinden, zusammen mit seiner Ex-Frau diese Retrospektive veranstalten zu können. Außerdem, ich kann das ja hier im Vertrauen sagen, hat das Museum einige Arbeiten angekauft, im Zuge der Ausstellungsvorbereitung, um sie für die Berliner und die Kunstwelt zu bewahren. Für mich ist und bleibt Wuttke der Ausnahmekünstler seiner Generation hier in Berlin. Einen wie ihn werden wir so schnell nicht wieder haben.“
„Ich habe Papa ja fast nicht gekannt. Ist es okay, wenn ich Papa sage? Ja? Danke. Also Anne, meine Mutter, die wollte nicht, dass wir uns sehen, nach allem, was ich weiß, ist er wohl auch wirklich irgendwie schlechter Umgang. Komischerweise hat keiner von beiden je über die Zeit gesprochen, in der sie sich kennengelernt haben. Jetzt wo ich älter bin, frage ich mich natürlich: Wie kann das überhaupt passiert sein? Sie müssen sich ja kennengelernt haben, als Wuttke noch Lackierer war, in irgend so einer Werkstatt im Wedding, den Namen habe ich vergessen, wahrscheinlich gibt es die ja auch gar nicht mehr. Wie also kann das sein, dass meine Mutter, echte Blankeneserin, gute Familie, richtig Bourgeois, sich mit so einem zusammen tut. Wo lernt man sich da überhaupt kennen, frage ich mich. Mama weicht mir immer aus. Interessant ist er ja bestimmt gewesen. Ich habe ihn vergöttert, wenn er uns mal besuchen kam, was leider selten vorkam. Meist hat es Streit gegeben. Hmmm, wollen Sie ein paar Zeichnungen von ihm sehen, die er mir geschenkt hat? Viel mehr ist mir nicht geblieben. Auch wenn ich nicht glaube, dass ihm was passiert ist.“
„Ich frage Sie etwas, denn ich möchte nicht über einen meiner besten Freunde sprechen, nicht in dieser Situation und nicht mit einem Journalisten. Ich frage Sie also: Wie lange dauert das, bis man zu dem wird, was man erfunden hat? Wie lange braucht es, bis eine Kunstfigur, die man sich ersonnen hat und die man sich tagtäglich überstreift wie einen Mantel, wenn man vor die Tür tritt, Besitz von einem ergreift? Kann man über Jahre hinweg immer trennscharf das eine von dem anderen, das Echte von dem Erdachten trennen? Ich frage Sie das weniger wegen Wuttke, der würde mich auslachen, nein, ich frage das wegen mir, als Schriftsteller. Ich bin da gleichzeitig diese Person, die hier sitzt und mit Ihnen spricht, eine Person mit einer kleinen Bekanntheit und Reputation, bin ein Bild, wenn Sie so wollen, dass es von mir gibt und welches ich – selbst, wenn ich nicht wollte – bedienen muss, ansonsten würde man dort Dinge hineininterpretieren. Genauso geht es allen, denke ich, ging es Wuttke, denke ich, und deshalb ist er verschwunden. Ich glaube, er hatte es alles gründlich satt. Sich, seine Rolle, diesen ganzen Unsinn und das ganze Getrinke, das er an den Tag legen musste, um nicht aus der Rolle zu fallen. Ich weiß, das hilft Ihnen eher nicht weiter, dabei ist genau das vielleicht der springende Punkt.“
„Wuttke war ja schon ein Unikat. Oder soll ich „ist“ sagen? So einer, mit dieser Konstitution, ohne Sorgen, zumindest ohne, dass man sie ihm je angemerkt hätte, so einer überlebt. Immer. Würde mich nicht wundern, wenn er in ein, zwei Monaten hier wieder an der Theke steht, da wo sie jetzt stehen, da hat er gern gestanden, Bier inner Hand, Zippe im Maul, Mantelkragen hochgeschlagen, Hemd hängt aus der Hose. Richtiger Macho. Die Frauen sind drauf geflogen. Der säuft sich jetzt bestimmt durch Spanien, irgendein Mädel im Arm. Hören Sie auf mich. Ich kenn den Wuttke.“
„Komischer Kerl, der Wuttke. Hat sich immer recht entfernt von uns anderen gehalten in der Uni. Das gibt es ja nicht oft. Mag daran gelegen haben, dass er einfach diese paar Jahre älter war als wir. Was mich immer gewundert hat, also bei seinem Background, Arbeiterkind und alles, ist, was der alles wusste, wie er manchmal mit den Professoren diskutiert hat. Wo hat der das alles gelernt? In der Realschule sicher nicht. Ich meine: Da steht einer neben dir und kann Rilke zitieren, hat Goethe gelesen, Nietzsche, Schopenhauer, all die Klassiker, an die sich die meisten, vielleicht sogar Literaturstudenten, nur nebelhaft aus irgendwelchen Seminaren oder dem Gymnasium erinnern. Wuttke wusste da mehr als die meisten. Ich habe mich immer gefragt: Kann das sein, dass einer Lackierer lernt und nebenbei deutsche Klassiker liest, so aus eigenem Antrieb, und die auch noch versteht, einordnet, in Kontexte und Querverbindungen setzt? Ich glaube der „Grüne Heinrich“, das war eines seiner Lieblingsbücher. Habe ich bis heute nicht gelesen, muss man vielleicht nicht gelesen haben, hatte er gelesen – und bestimmt nicht nur einmal.“
„Für mich ist und bleibt Wuttke ein Zampano, ein Taschenspieler, ein Betrüger. Der Gesellschaft den Spiegel vorhalten und so, das ist doch alles Quatsch. Nie verlässt du mit irgendetwas, das noch Kunst sein kann, die Wohlfühlecke so richtig. Und die einfachen Leute, die bei ihm immer vorkommen, ich finde, Wuttke hat sie benutzt, hat sie ausgebeutet, sie als Abziehbilder da hingestellt zum interessierten Ekel des Bürgers. Das ist richtig niederträchtig, wenn Sie mich fragen, das ist eine Schweinerei, wenn so einer so was tut, im Namen der Kunst oder nicht. Für mich ist Wuttke keinen Deut besser, als jeder beliebige Ausbeuter, vielleicht ist er sogar noch schlimmer, hat er seinen Opfern doch immerhin das Gefühl gegeben, ihnen eine Stimme zu geben, sich für sie zu interessieren. Dabei ging es immer nur um Wuttke und sein Werk. Der hat sich für niemanden interessiert, außer für sich selbst und seine Arbeit und dafür ist er – metaphorisch, bitte verstehen Sie mich nicht falsch – über Leichen gegangen, polternd, grinsend, besoffen, frech und dreist. So, wie man ihn kennt. Von wegen echt und wahr und Gesellschaftskritik und sich dem Kunstmarkt verweigern. Lachhaft. Das geht alles gar nicht, wenn Sie mich fragen. Und glauben sie mir, der satte Bauch der Bourgeoisie hat bisher noch jede Avantgarde ohne allzu große Bauchschmerzen verdaut.“
„Da fällt mir gerade eine interessante Begebenheit ein. Ich war mit Wuttke auf Vernissagentour, ja, also drei, vier, fünf, immer Weinchen und Bier, später sind wir hier ums Eck bei der Wirtin gelandet. Absacker trinken. Das war ja immer das Seltsame an Wuttke: Da ist einer ironisch, schelmisch, unernst im ernsten Sinne des Wortes, den ganzen Abend lang, dann plötzlich, aus heiterem Himmel, verzieht sich alle Ironie, aller Schelm, auch aus den Augen, und du sitzt dem echten, dem ernsten Wuttke gegenüber. Ich habe ihn immer für einen sehr ernsten Menschen gehalten. Kann man sonst die Dinge so ironisieren? Ich meine, wenn man sie nicht an sie heranlässt, wenn man sie nicht ernst nimmt? Lassen wir das. Plötzlich sitzt mir also der echte, der ernste Wuttke gegenüber und sagt, ich versuche, das wörtlich hinzukriegen, sitzt da also und sagt: Da lebst du dann in diesem scheiß liberalen Berlin, fünf Jahre, zehn Jahre, und irgendwann akzeptierst du alle Absonderlichkeiten, die so unter Erwachsenen oder was man heute dafür hält so vorkommen. Dich schockiert nichts mehr. Es interessiert dich auch eigentlich nicht weiter, wer sich zu welchem Zweck was irgendwo hinten rein schiebt. Wenn es dich noch interessiert, gehst du auch ab und an in den Kit Kat Club. Wieso auch nicht. Was du dann schmerzlich feststellst, wenn du ganz und gar liberal geworden bist, alles mit einem Achselzucken hinnimmst, dich vielleicht noch ab und an wunderst, wenn dir jemand sowas erzählt, du aber keinen mehr verurteilst, was du dann feststellst, ist doch, wie wenig pervers, wie langweilig du eigentlich bist, so ganz ohne Fetisch und Vorlieben, einfach hetero, nicht mal ein bisschen schwul. Das bringt dich dann fast zum Weinen. Man versucht das dann ja auch mal. Perversionen. Was man so dafür hält. Aber das gibt dir eben überhaupt nichts. Du bist langweilig, stinknormal, dir fehlt das, geht das ab, damit musst du leben. – Wissen Sie, für mich war das so ein Wuttke Moment. Nach all dem Herumalbern den ganzen Abend, haut der da so eine Wahrheit raus. Wir alle empfinden so, denke ich. Ja. Du kannst ja kaum anders. Ich glaube, Wuttke wäre es lieber gewesen, wie mir im Übrigen auch, die Dinge würden nicht so aggressiv offen gelegt. Aber heute gibt es da ja keine Schranken mehr. Sexuelle Orientierung, Essstörungen, Krankheits- und Lebensgeschichten, alles erzählen dir die Leute, ganz schamlos, als ob das sein müsste, mitunter dabei mit der Gabel ein Bratenstück zum Mund führend.“
„Wuttke? Geiler Typ. Echt mal. Was gibts dazu sonst noch zu sagen?“