Bücher, die mein Leben verändert haben

Nora Gantenbrink

Bücher sind wie gute Freunde. Manche Freundschaften halten ein Leben lang. Man sucht immer wieder den Austausch mit ihnen, andere entpuppen sich als Lebensabschnittgefährten, die nur für eine kurze Zeit einen bedeutsamen Platz im Leben einnehmen, wieder andere erweisen sich als eine Art konstanter, wegweisender Kompass. Ab sofort stellen Autor*innen Euch genau solche Bücher vor. Bücher, die ihr Leben verändert haben. Den Anfang macht die Hamburger Journalistin und Autorin Nora Gantenbrink.

 

Nora Gantenbrink, 34, Journalistin und Autorin der beiden Bücher Verficktes Herz und Dad

 

 

Nora (Oder ein Puppenheim) von Henrik Ibsen

Nach diesem Theaterstück des norwegischen Schriftstellers Henrik Ibsen bin ich benannt. Meine Mutter hatte es in der Oberstufe gelesen. Sie mochte den Namen der Protagonistin und schwor sich, ihre Tochter – würde sie später mal eine bekommen – eben genau so zu nennen. Es hat insofern wirklich mein Leben verändert.

Als ich dann mit 16 das Stück am Düsseldorfer Theater sah, war ich zunächst etwas irritiert. Es könnte natürlich an der Inszenierung liegen, redete ich mir ein, aber ein Happy End sah für mich anders aus. Die Theaterstück-Nora verlässt am Ende über Nacht ihre Familie und verschwindet. Ich las daraufhin das Reclam-Heft. Erst später verstand ich, wie fortschrittlich Ibsens Werk von 1879 eigentlich war. Bis heute gilt es als eines der wichtigsten Stücke für die Frauenbefreiung. Ibsen selbst lehnte feministische Preise zu Lebzeiten immer ab, aber gut, er war wohl auch ein ziemlicher Anarcho-Stoffel.  

Ich liebe dünne Bücher. Allen Werken, die mehr als 250 Seiten haben, misstraue ich zutiefst.

 

 

Tristan von Thomas Mann

Ich liebe dünne Bücher. Allen Werken, die mehr als 250 Seiten haben, misstraue ich zutiefst. Die Bücher von Thomas Mann sind mir grundsätzlich zu lang. Ich finde, dass der Zauberberg unnötig lange Beschreibungen enthält und auch die Buddenbrocks sind wahnsinnig langatmig. Aber diese kurze  Novelle, Tristan von Thomas Mann, ist einfach phantastisch. Es geht um Herrn Spinell. Spinell ist als Literat leider erfolglos geblieben, was ihn natürlich nur hochgradig sympathisch macht. In einem Sanatorium verliebt sich Herr Spinell in eine kranke Frau, aber die ist unglücklicherweise mit Herrn Klöterjahn zusammen. Herr Klöterjahn verkörpert all das, was Herr Spinell verachtet. Und dann treffen dieser feinsinnige Spinell und dieser grobe Klöterjahn aufeinander. Zum Schluss schreibt Herr Spinell folgenden Brief an Klöterjahn: „Mein Herr, Ich richte die folgenden Zeilen an Sie, weil ich nicht anders kann. Weil das, was ich Ihnen zu sagen habe, mich füllt und quält und zitternd macht. Weil mir die Worte mir einer solchen Heftigkeit zuströmen, dass ich an ihnen ersticken würde, dürfte ich mich ihrer nicht in diesem Brief entlasten.“

 

„Ich habe Ihnen im Kampf nur eines entgegenzustellen, das erhabene Gewaffen und Rachewerkzeug der Schwachen: Geist und Wort.“ Herr Spinell aus Tristan

 

Am Ende des Briefes schreibt er: „Ich darf nicht sagen, dass ich Sie verachte. Ich kann es nicht, ich bin ehrlich, Sie sind der Stärkere. Ich habe Ihnen im Kampf nur eines entgegenzustellen, das erhabene Gewaffen und Rachewerkzeug der Schwachen: Geist und Wort.“ Und weiter: „Heute habe ich mich seiner bedient. Denn dieser Brief, auch darin bin ich ehrlich mein Herr, ist nichts anderes als ein Racheakt und ist nur ein einziges Wort darin scharf glänzend und schön genug, Sie betroffen zu machen, Sie eine fremde Macht spüren zu lassen, Ihren robusten Gleichmut einen Augenblick in Wanken zu bringen, so will ich frohlocken. Detlef Spinell.“

Diesen Brief finde ich so wahnsinnig gut. Das Rachewerkzeug der Schwachen, Geist und Wort. Einfach genial. Ich hole die Novelle immer mal wieder hervor und lese sie erneut.

 

 

Tigermilch von Stefanie de Velasco

 

Das Buch Tigermilch ist 2013 erschienen und ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass es mein Leben verändert hat, aber ich habe es einfach richtig gerne gelesen, weil Stefanie de Velasco ein unglaublich berührendes Buch über eine Mädchenfreundschaft geschrieben hat. Die beiden Protagonistinnen Nini und Jameelah trinken Tigermilch (Mariacron, Maracuja und Milch) sprechen O-Sprache, machen Pinkischwur, verdrehen Wörter und haben so ganz viele Insider und man folgt ihnen einfach überall hin. Das Buch hat mich an meine Jugend erinnert und an eigene Freundschaften und daran, dass ohne Freunde alles nichts ist.

 

 

Erzählungen von Hermann Hesse

 

Diese Sammlung von Erzählungen von Hermann Hesse hat mir mein verstorbener Vater hinterlassen. Ich weiß, dass ich damals in eine komplett neue Welt abgetaucht bin und dachte: „Wahnsinn! Hermann-Hesse-Superstar!“ So wie er wollte ich irgendwann mal schreiben können. Ich hielt ihn für den womöglich tollsten Schriftsteller der Welt. Allein schon wie er aussah. Jahrelang behütete ich alle Hesse-Bücher wie Gollum seinen Schatz.
Gemeinsam mit ein paar Freunden organisiere ich in losen Abständen Leseabende. Dort haben wir irgendwann mal Bücher mitgebracht, die in unserer Jugend von großer Bedeutung für uns waren. Wir haben uns dann gegenseitig Stellen aus den Werken vorgelesen. Als ich für einen Leseabend Hesse nochmal hervor geholt habe, dachte ich nur: „Wow, ganz schön schmalzig.“ Das war mir früher gar nicht so aufgefallen.

Heute denke ich mir: Gut, dass ich nicht schreibe wie Herrmann-Hesse. Sondern so wie Nora Gantenbrink.

 

„Das Ende einer Reise hinterlässt bei mir denselben traurigen Nachgeschmack, wie das Ende eines Romans.“ Edouard Levé

 

Autoporträt von Édouard Levé

Edouard Levé ist ein französischer Künstler, dessen Lebensgeschichte sehr traurig ist. Sein letztes Buch heißt Suicide, also Selbstmord. Das Manuskript dazu hat er zehn Tage, bevor er sich selbst umgebracht hat, seinen Lektor zugeschickt. Sein Buch Autoporträt besteht eigentlich nur aus aneinandergereihten Gedanken und Beschreibungen und ist wahnsinnig intensiv.

 

„Ich kann die Farbe, die ich durch meine geschlossenen Augenlider sehe, nicht beschreiben.“

 

Ich habe fast jeden dritten Satz in dem Buch mit Bleistift unterstrichen. Zum Beispiel: „Ich schätze, der beste Teil eines Strumpfes ist das Loch.“ Oder: „Ich frage mich, wohin die Träume verschwinden, an die ich mich nicht erinnern kann.“ Einer der schönsten Sätze darin lautet: „Ich kann die Farbe, die ich durch meine geschlossenen Augenlider sehe, nicht beschreiben.“ Oder: „Ich habe schon oft gehört aber nie gesehen, wie eine Frucht von einem Baum fiel.“ Genauso geht’s mir auch! Ich habe schon total oft einen Apfel fallen hören, aber ich habe noch nie gesehen, wie ein Apfel vom Baum gefallen ist. Dieses Buch kann ich nur jedem empfehlen. Es hat übrigens gerade mal 111 Seiten.

Anmerkung der Redaktion: Das Buch ist derzeit vergriffen, befindet sich aber im Nachdruck und wird voraussichtlich ab September wieder erhältlich sein.

Am Ende habe ich geheult und wer das nicht tut, der hat kein Herz oder keine Tränen oder beides.  

 

 

Das Schicksal ist ein mieser Verräter von John Green

Das Buch Das Schicksal ist ein mieser Verräter habe ich vor sieben Jahren gelesen. Ich war 27 und habe eine Freundin in Frankreich besucht, die dort in einem Zirkuswagen Urlaub gemacht hat. Ein magischer Ort, an dem lauter Wildpferde herumgelaufen sind. Das Buch handelt von Krebs und an einer Stelle sagt die Protagonisten Hazel selbst: „Krebsbücher sind doof.“ Genau das war eigentlich auch meine Meinung, aber nun saß ich eben mit diesem Krebsbuch vor diesem Zirkuswagen auf einem Klappstuhl in der Sonne und konnte nicht aufhören zu lesen. Am Ende habe ich geheult und wer das nicht tut, der hat kein Herz oder keine Tränen oder beides. Es gibt ja Bücher, die sind nahezu perfekt. Das Schicksal ist ein mieser Verräter ist eines davon.

 

Protokolle: Lesley Sevriens

Fotos: Alexandra Polina 

 

 

 

 

 

 

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