Das goldene Notizbuch

Doris Lessings Roman das goldene Notizbuch (und sie selber hier in jung)

Der 1962 veröffentlichte Roman Das goldene Notizbuch gilt als das wichtigste Buch von Doris Lessing. Der vielschichtige Roman mit einer komplexen Erzählstruktur folgt der Protagonistin Anna Wulf, einer Schriftstellerin mit Wurzeln im kolonialen Afrika, und ihrer Freundin Molly Jacobs sowie ihren Liebhabern und Kindern. Das nicht ganz dünne Werk (800 Seiten in der deutschen Taschenbuchausgabe) wird häufig als Klassiker des Feminismus bezeichnet, was von Lessing selber immer zurückgewiesen wurde. Besonders deutlich wird sie in einer in den frühen 70ern gehaltenen Vorlesung, die heute auch gern als Vorwort zu dem Werk genutzt wird. Nicht von der Hand zu weisen ist aber, dass die Handlung aus einer weiblichen Perspektive heraus erzählt wird und das Emanzipation ein Leitthema darstellt. Gleichzeitig geht das Werk aber immer wieder darüber hinaus und nimmt vor allem die Emanzipation nicht nur als Emanzipation der Frau, sondern vielmehr als Emanzipation von sich selbst, dem Durchbrechen von Mustern und Gewohnheiten. Bei der Verleihung des Literaturnobelpreises an Doris Lessing im Jahr 2007 wurde Das goldene Notizbuch als einziges ihrer Werke namentlich genannt.

Der Aufbau von Doris Lessings “Das Goldene Notizbuch”

Das goldene Notizbuch besteht aus sechs verschiedenen Teilen. Die Basis ist eine lineare Erzählung, die dem Leben der Schriftstellerin Anna Wulf in den 50er Jahren in England folgt. Diese mit dem Titel Ungebundene Frauen versehene Erzählung ist für sich genommen schon ein Roman, der in Das goldene Notizbuch in fünf Teile aufgespalten wird und Anfang wie Ende des Romans bildet. Nach den ersten vier Teilen der linearen Erzählung (Ungebundene Frauen I-IV) werden je vier Notizbücher von Anna Wulf eingebunden, die sich jeweils mit anderen Themenkomplexen beschäftigen und farblich konnotiert sind. Am Ende fließen all diese sich auf Aspekte, auf Splitter der Existenz Anna Wulfs konzentrierenden Notizbücher zusammen in das Goldene Notizbuch, in dem die Trennung, Zerfaserung und Zersplitterung von Erfahrung, Erleben, kritischem Denken und Körperlichkeit aufgehoben zu sein scheint – oder zumindest der Versuch einer Überwindung stattfindet. Das am Ende stehende Goldene Notizbuch gibt dem Werk als Ganzen auch seinen Namen. Als Abschluss des Romans folgt ein weiterer, abschließender Teil der linearen Erzählung (Ungebundene Frauen V).

Inhalt

Der Roman beginnt mit Anna Wulf und Molly Jacobs in einem Londoner Apartment und folgt von da an in Ungebunde Frauen dem Leben dergrundsätzlich verschiedenen Frauen. Anna ist eher introvertiert und unsicher und Molly, eine Schauspielerin, ist weltgewandte und ausgelassen. Gleichzeitig haben beide mit ihrem Dasein als Frau zu kämpfen, auch oder gerade weil sie sich die Freiheit genommen haben, sich nicht durch Männer definieren zu lassen und nicht von diesen abhängig zu sein. Männer spielen daher immer wieder eine wichtige Rolle: als Ex-Ehemänner, Liebhaber, Söhne (Tommy, der Sohn von Molly) und auch als weniger oder besser: weniger offensichtlich mit sich selbst, den Zuständen, der Welt hadernden Wesen. Denn auch die Männer sind alles andere als glücklich oder einfach gestrickt, ja suchen mitunter sogar Hilfe bei den beiden „emanzipierten“ Frauen. Nach der Beschreibung einer Szene bzw. Episode wechselt Lessing von der linearen Erzählung dieser beiden Frauenleben zu den Notizbüchern. Dieser Kunstgriff erlaubt nicht nur für radikale Stilwechsel, Rückblenden und das Einfließen von ausgiebigen Reflexionen, die sonst den Erzählfluss brechen würden, sondern stellen in ihrer jeweils auf einen bestimmten Aspekt fokussierten Teilung auch ein Panorama der Gedankenwelt, der Ideen und Lebenswelt der 50er Jahre dar. Gleichzeitig zeigt diese Aufsplitterung die Problematik auf, die Dinge unter einen Hut zu bekommen – Lieben. Leben, Denken, Politik und Vergangenheit existieren hier oft mehr nebeneinander her, als miteinander. Erst mit dem goldenen Notizbuch kurz vor Ende des Romans wird eine Synthese versucht. Abschließend sind es wieder Anna und Molly im letzten Teil der Ungebundenen Frauen, die sich – mehr oder wenig unterbrochen oder gestört von Männern natürlich – über ihre Erfahrungen, Pläne, die Zukunft austauschen.

Die Notizbücher

Die fünf Notizbücher sind jeweils farblich markiert und folgen mit Ausnahme des goldenen Notizbuches gegen Ende des Romans, das diese aufnimmt und doch für sich steht, einer immer gleichen Reihenfolge. Zuerst das schwarze, dann das rote, das gelbe und schließlich das blaue Notizbuch.

Das schwarze Notizbuch

Die vier Teile des schwarzen Notizbuchs in Lessings Roman beschäftigen sich hauptsächlich mit Anna Wulfs Jugend und frühen Erwachsenenzeit im kolonialen Afrika, in dem sie die Zeit des 2. Weltkrieges verbrachte. Diese Zeit und die dort gewonnenen Eindrücke bildeten auch die Grundlage für Annas erfolgreichen ersten Roman, den sie im Nachhinein als schrecklich naiv und unausgereift empfindet. In Afrika kommt sie zudem in Berührung mit sozialistischen Kreisen und schließt sich diesen an. Dies sind alles Parallelen zu Doris Lessings Leben, die einen Großteil ihrer Kindheit, Jugend und Teile ihres Erwachsenenlebens in Afrika verbrachte, ihren ersten Roman über diese Zeit schrieb und – das auch noch! – dort mit Sozialisten und Kommunisten zusammenkam, von dem sie den deutschstämmigen Gottfried Lessing sogar heiratete.

Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch gibt in seinen vier Teilen Einblicke in die inneren Gewerke der kommunistischen Partei im England der 50er Jahre. Neben den Diskussionen, Themen und Schwierigkeiten dieser Partei, von der sich Anna Wulf im Verlauf des Romans immer mehr abwendet, ohne die grundlegenden Idee der sozialen Gerechtigkeit aufzugeben, werden auch Parteibüros und Versammlungen beschrieben und reflektiert. Auch das rote Notizbuch kann mit Doris Lessing selbst in Verbindung gebracht werden, die in den 50ern eine aktive Größe der kommunistischen Partei in Großbritannien war, sich aber – auch unter dem Eindruck der Gräuel Stalins – von dieser abwandte.

Das gelbe Notizbuch

In gewisser Weise ist das gelbe Notizbuch – mit Einsprengseln – ein Roman im Roman. Es ist das Manuskript, an dem Anna Wulf arbeitet und das sie auf ihrem eigenem Leben basiert (und damit auch ein augenzwinkerndes Verwirrspiel, da man Doris Lessing in der Protagonistin Anna Wulf sehen kann, wenn man will, die hier wiederum über sich selber schreibt). In dem Buch geht es um eine Schriftstellerin, Ella, die für ein Magazin arbeitet und daneben an einem Roman über einen Mann schreibt, der alles für seinen Tod vorbereitet, um dann Selbstmord zu begehen.

Das blaue Notizbuch

Das blaue und vierte der Notizbücher folgt den Sitzungen Annas mit ihrer Psychoanalytikerin Mrs. Marks. Weil diese fragt, ob Anna in ihren Notizbüchern auch über ihre Sitzungen schreibt, wechselt das blaue Notizbuch für einige Zeit (vier Jahre im Buch) zu einer Sammlung von Zeitungsartikeln, insbesondere über Konflikte, Katastrophen und Kriege, von denen es auch in den 50ern nicht wenige gab, die für sich genommen aus heutiger Sicht aber auch ein interessantes historisches Dokument darstellen.

Das goldene Notizbuch

Das goldene Notizbuch versucht, wie schon angesprochen, die Fragmentierung aufzubrechen, die in den anderen vier Notizbüchern aufzufinden ist. Gleichzeitig wird hier auch die Erzählung der Ungebundenen Frauen als eine fiktionale Erzählung Annas auf Basis ihrer Notizbücher enthüllt, die ihr nächster Roman werden soll. Das Spiel mit Bedeutungsebenen und Fiktionen in Fiktionen erreicht damit seinen Höhepunkt und lässt den Leser das zuvor Gelesene noch einmal mit anderen Augen betrachten.

Fazit zu Doris Lessings Roman “Das goldene Notizbuch”

Durch seine ungewöhnliche Konstruktion, das Spiel mit Identitäten von Autor, Protagonist, Erzähler und die tiefgreifenden Auseinandersetzungen mit ganz verschiedenen Aspekten des kulturellen Lebens in den 50er Jahren ist Das goldene Noitzbuch ein echtes Meisterwerk. Auch die Sprache, meist klar und nüchtern, hier und da versetzt mit passenden Bildern und Metaphern, die aber nie ins poetische abgleiten, ist angenehm und erstaunlich modern – wie die Themen, die verhandelt werden. Ja, es ist teilweise natürlich historisches da aufzufinden, immerhin spielt das Buch in den 50er Jahren, die grundsätzlichen Fragen, die verhandelt werden, sind aber zeitlos und können zumindest zu einem Großteil auch heute noch Geltung beanspruchen. Das bezieht sich dezidiert auch auf die Schwierigkeiten der beiden „freien“ Frauen Anna und Molly, die mit ihrem eigenen Weg, den sie gehen, immer wieder anecken und es sich nicht selten alles andere als leicht machen. Wer den dicken Band nicht scheut, der sollte ihn unbedingt lesen. Es lohnt sich.

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