Tonio Kröger

Tonio Kröger wächst in einer alten, giebeligen Stadt an der Ostsee auf. Umgeben von dem frischen, blonden, blauäugigen und unbeschwerten Menschenschlag, der dort lebt, erscheint der durch seine aus dem Süden stammende Mutter weitaus dunklere Tonio wie ein Außenseiter. Besonders angetan hat es ihm Hans Hansen – ein Pferdebücher liebender Junge, der aber nur wenig mit dem Violine spielenden und Gedichte schreibenden Tonio anfangen kann. Etwas älter geworden verliebt er sich unglücklich in die ebenso blonde und blauäugige, quietschlebendige, lustige Inge Holm. Beim Tanzunterricht traut er sich nicht sie anzusprechen und Inge – wie vorher schon Hans Hansen – kann wenig mit dem Träumer anfangen. Nach dem Tod des Vaters und der erneuten Heirat der Mutter verlässt Tonio seine Heimatstadt und bildet – unter sinnlichen Ausschweifungen – seine scharfe Beobachtungsgabe aus.

Lisaweta Iwanowa und Tonio Krögers Reise nach Helsingör

Nach einem Zeitsprung, Tonio ist dreißig und ein bekannter, erfolgreicher Schriftsteller, begleiten die Leserin und der Leser ihn zu der mit diesem befreundeten Künstlerin Lisaweta Iwanowna. In ihrem Gespräch, in dem er ihr eröffnet, er würde verreisen, es ziehe ihn nach Norden, in die heimatlichen Gefilde, dreht sich alles um die Frage, was ein Künstler oder eine Künstlerin eigentlich ist. Als Tonio aufbricht und Lebewohl sagt, nennt ihn Lisaweta einen „verirrten Bürger“. Tonio Kröger hetzt hinaus und denkt: „Ich bin erledigt!“, denn die Malerin hat ihn, beziehungsweise seinen inneren Kampf zwischen Bürgerlichkeit und dem Dasein als Künstler geradezu hellsichtig erkannt. Die Reise nach Norden führt ihn in seine Heimatstadt, wo ihn niemand mehr erkennt, nach Kopenhagen, wo er sich unter dem blonden, skandinavischen Menschenschlag wohl fühlt und schließlich nach Helsingör, wo er sich in einem kleinen Badehotel einmietet.

Das Buch und die innere Spannung Tonio Krögers, erreichen ihren Höhepunkt, als eine Reisegruppe auftaucht und am Abend einen „Ball“ veranstaltet, der in gewisser Weise den abschließenden Ball in Tonio Krögers Jugend spiegelt – samt einem ganz blonden, ganz blauäugigen Paar. Das abschließende Kapitel besteht aus einem Brief Tonio Krögers an seine Künstlerfreundin Lisaweta Iwanowna, in der er ihr die Ergebnisse seiner Innenschau mitteilt.

Autobiographisches und das Künstlerproblem in Thomas Manns Meisternovelle

Die Novelle Tonio Kröger zeigt, ähnlich wie der wenige Jahre zuvor erschienene erste Roman Manns um „Die Buddenbrooks“ deutlich autobiographische Züge. Auch wenn Vorsicht geboten ist bei einer allzu einfachen Gleichsetzung der Figur Tonio Kröger mit dem Menschen Thomas Mann, so verarbeitet er doch ihn drängende Fragen in dieser Novelle, insbesondere das Verhältnis von Künstlerdasein und Bürgerlichkeit, nach deren Versöhnung es Thomas Mann zu drängen scheint. Nun ist fraglich, ob der Gegensatz, den der Autor (und die Figur Tonio Krögers) zwischen Bürgertum und Kunst auszumachen scheinen, wirklich derart absolut und unüberbrückbar ist. Historisch gesehen passt die Problematisierung eines solchen wahrgenommenen Gegensatzes aber in eine Zeit, in der der Geniekult der deutschen Romantik nach wie vor präsent ist und die so genannte Avantgarde sich absichtlich in Lebensweisen und Ansichten ergeht, die dem klassischen Bürgertum diametral entgegenstehen.

Fazit zu Thomas Manns „Tonio Kröger“

Lässt man all diese literaturwissenschaftlich-autobiographischen Bezüge mal für einen Moment weg, bleibt eine schön erzählte Novelle um einen Menschen, der mit gewissen Fremdheitserfahrungen aufwächst, einen analytischen Geist ausbildet, der ihm das törichte an den Menschen nur allzu deutlich vor Augen treten lässt, und der sich auf der Suche nach sich selbst auf eine Reise in die alte Heimat begibt. Hier liegt die Stärke des Buches, an die der Leser und die Leserin auch am ehesten anschließen können, während die Künstlerdebatte heute eher weniger bedeutend erscheint, nicht nur weil der Geniekult als solcher zumindest in größten Teilen –  zum Glück! – diskreditiert ist, sondern auch, weil sich – durch jegliche Avantgardebewegungen in Literatur und Kunst hindurch – herausgestellt hat, dass diese, auch in größter Ablehnung des Bürgertums, fast immer eine von Bürger*innen (bzw. Bürgerkindern) für Bürger*innen gemachte ist. Oder, um es einmal polemisch zu sagen: Der große Magen der Bourgeoisie hat noch jede Avantgarde verdaut.

Einordnung ins Gesamtwerk von Thomas Mann

Wenn auch weniger prominent als Manns große Romane – Die Buddenbrooks, Der Zauberberg, Doktor Faustus – bilden seine Novellen trotzdem einen guten Einstieg in die Welt und den Stil des großen Romancier. Dabei ist Tonio Kröger durchaus auch für ein jüngeres Publikum gut geeignet, anders als die bekanntere und häufiger gelesenen Novelle „Der Tod in Venedig“, die sehr viel hermetischer ist und mehr Vorwissen benötigt, um diese wirklich gänzlich zu verstehen. Zudem wird in Tonio Kröger wie wohl sonst nirgends im Werk Manns eines seiner zentralen Themen – das Bürgerliche und der Künstler bzw. die Künstlerin – offen ausgebreitet, das sich sonst eher im Hintergrund, wie ein Thema in einer Symphonie, durch dessen gesamtes Werk zieht.

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